Interdisziplinäre Heilmittelbehandlung der ALS: Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie

Vom DGM-Arbeitskreis Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie

Primär zielt die Heilmittelbehandlung darauf, die Auswirkungen und Folgen der Erkrankung therapeutisch so zu gestalten, dass die Selbständigkeit ALS-Betroffener im Alltag unterstützt sowie individuelle Lebensqualität und Würde bis zuletzt ermöglicht werden.

Um vorhandene Fähigkeiten auf einem möglichst stabilen Niveau zu erhalten, ist die regelmäßige Durchführung ambulanter Therapien erforderlich. Darüber hinaus sollte ebenfalls in regelmäßigen Abständen eine stationäre Rehabilitation erfolgen.

Wie erhalte ich eine Heilmittelbehandlung?

Für die Behandlung ist eine Heilmittelverordnung durch einen Haus- oder Facharzt erforderlich. Die Behandlung kann unter bestimmten Voraussetzungen auch im Rahmen eines Hausbesuchs erfolgen. Hinweise zur Verordnung der notwendigen Therapien durch die behandelnden Ärzte und Faltblätter zu den verschiedenen Therapien können Sie bei der DGM anfordern.

Je nachdem, welche motorischen Nervenzellen durch die ALS-Erkrankung geschädigt sind, können spastische Bewegungskomponenten vorliegen, es kann aber auch das Bild einer schlaffen Lähmung vorherrschen. All diese Symptome können in einzelnen Körperregionen unterschiedlich ausgeprägt sein. Es kommt vor, dass Betroffene noch gehfähig sind, ihre Schulter- und Oberarmmuskulatur jedoch eine fast vollständige Lähmung zeigen. Andere Formen sind von aufsteigenden Lähmungen der Muskulatur, beginnend an den unteren Extremitäten bis hin zu Rumpf, oberen Extremitäten, Hals und Kopf, gekennzeichnet. Die bulbäre Form der ALS beginnt hingegen mit Schluck- und Sprechstörungen. Die sensorischen und vegetativen Funktionen bleiben in der Regel intakt.

Die Komplexität und Vielschichtigkeit des individuellen Krankheitsverlaufs erfordert von den Therapeuten ein breites Spektrum an Fachwissen sowie eine fundierte Auseinandersetzung mit den Krankheitsprozessen der ALS.

Wo finde ich qualifizierte Therapeuten?

Wir empfehlen Therapeuten aufzusuchen, die auf dem Gebiet der Neuromuskulären Erkrankungen erfahren und qualifiziert sind. 

Die DGM bietet regelmäßig Fortbildungen für Therapeuten an. Fortbildungstermine und Adressen geschulter Therapeuten können Sie bei der DGM anfordern. Darüber hinaus können Sie sich regional bei den ehrenamtlichen Kontaktpersonen nach persönlichen Empfehlungen für Therapeuten erkundigen.

Von großer Bedeutung ist die Schulung der Körperwahrnehmung. Sie versetzt die Betroffenen in die Lage eigene Leistungsreserven, aber auch Grenzen zu erkennen und die vorhandene Muskelkraft im Alltag effektiv und zielgerichtet einzusetzen. Anders als bei anderen neurologischen Erkrankungen sollte die Anwendung von Kompensationsbewegungen (z. B. beim Gehen, Hantieren oder Sprechen) durchaus zugelassen werden. Sie sind oftmals die einzige Alternative für den Betroffenen, um den Alltag so lange wie möglich selbstbestimmt gestalten zu können.

Auch empfiehlt es sich, die Angehörigen aktiv in die Therapie miteinzubeziehen und entsprechend anzuleiten. Durch fachgerechtes Vorgehen können sie die Therapie unterstützen und lernen sich selbst vor Überlastung schützen.

Überlastung vermeiden!

Der zunehmende Kraftverlust hat seine Ursache nicht in einem Mangel an Bewegung und Training, sondern im Verlust der nervalen Strukturen, die den Muskel aktivieren und steuern. Muskelschmerzen, Erschöpfungszustände, Schwächegefühl, ausgeprägte Muskelkrämpfe sowie anhaltende Kurzatmigkeit können auf eine Überlastung während der Therapie deuten.

Da nachkommende Einschränkungen schwer vorausgesehen werden können, ist eine kritische Überprüfung der gewählten Therapieinhalte regelmäßig erforderlich. Die therapeutischen Ziele und Behandlungsmethoden orientieren sich am konkreten Befund und aktuellen Stadium der Erkrankung sowie an der individuellen Situation des Patienten. Die Inhalte der Therapie werden sich entsprechend dem individuellen Krankheitsverlauf immer wieder verändern.
 

Kooperation zwischen den Therapeuten der verschiedenen Fachrichtungen

Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie sind Bestandteil der multiprofessionellen palliativen Versorgung der ALS. Die Methoden und Techniken der verschiedenen therapeutischen Fachrichtungen greifen eng ineinander, sie können und sollen einander ergänzen. Dies kann gelingen, wenn die Therapeuten voneinander wissen und ihre Vorgehensweisen und Maßnahmen miteinander abstimmen. Wenn ein gut kooperierendes interdisziplinäres Team mit dem Patienten arbeitet, profitieren alle davon. Im therapeutischen Alltag ist dies nicht immer einfach umzusetzen. Eine Patientenmappe kann bei der Koordination der Maßnahmen helfen.

Interdisziplinäre Heilmittelbehandlung der ALS

Austausch aller an der Behandlung beteiligten Fachkräfte, hinsichtlich der Therapieziele und Behandlungsschwerpunkte in den verschiedenen Therapiebereichen, sollte als integraler Bestandteil der Heilmittelbehandlung im Rahmen der palliativen Versorgung der ALS angesehen werden. Aktive fachübergreifende Zusammenarbeit bildet die Grundlage für eine qualitativ effektive Therapie.

Physiotherapie 

Physiotherapie soll die Bereiche Bewegungserleben, Handlungskompetenz im Alltag, und Wahrnehmung fördern.

Da die betroffene Muskulatur bei ALS oft an ihrer Leistungsgrenze arbeitet, ist von einem Krafttraining in der Regel abzuraten. Die Belastungsdosierung ist bei jeder Behandlung gemeinsam mit dem Patienten neu festzulegen. Der Therapeut sollte stets darauf achten, dass die Kraftreserven der Muskulatur nicht während der Therapie verbraucht werden, sondern dem Patienten zur Bewältigung seines Alltages zur Verfügung stehen. Jeder Therapeut soll die Behandlungsmethoden anwenden, die er am besten beherrscht und mit denen er die Therapieziele am effektivsten erreichen kann und die dem Patienten am angenehmsten sind.

Der Einsatz von verschiedenen therapeutischen Techniken für die Muskulatur zur Schmerzlinderung, zur Entspannung, zur Stimulation der Atmung sowie eine entsprechende Hilfsmittelversorgung kann dem Patienten die Möglichkeit geben, seinen Alltag so lange wie möglich selbstbestimmt zu gestalten. Mit der Zunahme der Muskelschwäche im Verlauf der Erkrankung verlagern sich die Schwerpunkte der physiotherapeutischen Behandlung von einem zunächst aktiven Ansatz auf den Einsatz von unterstützenden sowie passiven Therapiemaßnahmen.

Die nachfolgend aufgeführten Therapieinhalte können entsprechend der realisierbaren Zielsetzungen der Behandlung variieren:

  • Aktivierung nicht betroffener Muskulatur
  • Schulung der Körperwahrnehmung
  • Optimierung von Bewegungsabläufen, insbesondere bzgl. Muskelkraft und Koordination
  • Zulassen von Kompensationsstrategien
  • Tonus-Regulation spastischer Muskulatur
  • Pflege überbeanspruchter Muskulatur mittels Wärmeanwendungen, Massagen, sanften Dehnungen
  • entstauende Maßnahmen, z. B. Lymphdrainage
  • Kontrakturprophylaxe (Vorbeugung von Versteifungen der Gelenke)
  • Maßnahmen zur Schmerzlinderung
  • Hilfsmittelversorgung (Bedarf prüfen, Handhabung üben)
  • Förderung der Motivation des Patienten
  • Anleitung von Angehörigen
  • Atemphysiotherapie: Pneumonie-Prophylaxe (Vorbeugung von Infekten der Lunge), dosierte Atemtherapie, Sekret-Management (mehr dazu finden Sie im Kapitel „Atmung und Beatmung“)

Logopädie

Logopädie

Bei der ALS sind die Stimme, das Sprechen und das Schlucken oft mitbetroffen. Mit Beginn einer Sprech- und Schluckstörung sollten gezielt logopädische Maßnahmen eingesetzt werden. Die Auswahl von geeigneten Kommunikationshilfen sowie die Anleitung der Angehörigen gehören ebenfalls zum Aufgabengebiet der Logopäden. Mehr dazu finden Sie im Menüpunkt „Kommunikation und Sprechen“.

Behandlung der Sprechstörung (Dysarthrie / Dysarthrophonie)

Kennzeichen:

  • verwaschene und verlangsamte Artikulation
  • Auslassung von Lauten, die artikulatorisch schwer zu bilden sind
  • gepresster Stimmklang
  • nasaler Beiklang
  • prosodische Auffälligkeiten z. B. monotone Sprechweise
  • Störungen des Atem-Sprechrhythmus

Vorsicht

Häufig nehmen die Patienten lediglich die Schwierigkeit des Sprechens wahr – meistens sind aber gleichzeitig bereits mehr oder weniger diskrete Auffälligkeiten des Schluckens vorhanden!

Therapieziele:

  • Verbesserung bzw. Stabilisierung der Kommunikationsmöglichkeiten des Patienten
  • Information und Erprobung technischer Hilfsmittel
  • Erarbeitung von Kommunikationsstrategien für den Alltag des Patienten
  • Angehörigenberatung

Therapieinhalte:

  • Optimierung der Körperhaltung beim Sprechen im Rahmen der Möglichkeiten des Patienten – in Zusammenarbeit mit der Physio- und Ergotherapie
  • Atemtherapie – in Zusammenarbeit mit der Physiotherapie
  • Alltagsrelevante Übungen zur Erhaltung der am Sprechen beteiligten Muskulatur
  • Stimmübungen: funktionelle Stimmreserven nutzen
  • Aufrechterhaltung der Kommunikation unter Einbeziehung von handschriftlichen Medien sowie entsprechenden Hilfsmitteln, von einfachen Alphabet- und Schrifttafeln bis zu elektronischen Kommunikationssystemen mit individuell angepassten Steuerungen.

Atemunterstützend können Übungen wie z. B. Riechen an Duftölen, Flankenschere, Vibration, Wahrnehmen von Atemräumen usw. eingesetzt werden. Phonationsübungen wie z. B. Summen, Brummen und Seufzen wirken sich entspannend auf die Kehlkopfmuskulatur aus.
 

Behandlung der Schluckstörung (Dysphagie)

Kennzeichen:

  • Schwäche der Zunge
  • Faszikulieren (unwillkürliche Zuckungen) der Zunge
  • Atrophie der Zungenmuskulatur
  • Kloßgefühl im Hals
  • Speichelfluss aus dem Mund
  • Verschleimung
  • Schwacher / fehlender Mundschluss
  • Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel
  • Hinweise auf deutliche Verlängerung der Mahlzeiten
  • Essen kann im Mund nicht gesammelt und transportiert werden
  • gurgelnder Stimmklang
  • Husten durch Verschlucken
  • mäßiger Hustenstoß, keine oder geringe Reinigungswirkung
  • Flüssigkeitsmangel
  • Gewichtsverlust, Mangelernährung

Vorsicht

Durch die Veränderung der am Schlucken beteiligten Muskulatur kann es zu Problemen bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kommen. Durch Verschlucken kann es zu Lungenentzündungen (Aspirationspneumonien) kommen. Bei diesen Patienten kann die Anlage einer Magensonde (PEG) wertvolle Unterstützung bieten. Dabei sind der richtige Zeitpunkt der Anlage und die ethischen Aspekte mit dem Arzt zu besprechen. Nach Anlage einer PEG sollte die logopädische Therapie fortgesetzt werden, um z. B. die Mundpflege und / oder die orale Ernährung zu begleiten (Geschmackserleben). Das Speichellaufen kann auch medikamentös behandelt werden.

Therapieziele: 

  • sichere Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
  • Abschlucken des Speichels
  • Aktivierung des Mundinnenraumes
  • Atmung (Hustenstoß)

Therapieinhalte: 

  • genaue Diagnostik durch Essenbeobachtung, eine klinische oder apparative Schluckuntersuchung
  • Optimierung der Körperhaltung
  • Übungen zur Erhaltung der am Schlucken beteiligten Muskulatur
  • Atemübungen zur Unterstützung eines effektiven Hustenstoßes
  • Tonusregulierung des Gesichtsbereiches
  • Mundinnenraumstimulation
  • aktivierende Mundpflege
  • Mundhygiene zur Aspirationsprophylaxe unter Berücksichtigung der Schluckstörung
  • Auswahl an geeigneten Koststufen
  • Informationen über Kost- und Flüssigkeitsstufen
  • Angehörigenberatung und Anleitung

Mund stimulieren

Mit Hilfe einer Schluckuntersuchung werden die Fähigkeiten und Schwierigkeiten während des Schluckens sichtbar. Gemeinsam mit dem Betroffenen werden sichere Möglichkeiten des Essens und Trinkens aufgezeigt.

Bei der Auswahl der Übungen darf es nicht zu einer Übermüdung des Patienten kommen. Übungen sollten aus diesem Grund nicht direkt vor den Mahlzeiten durchgeführt werden. Mundmotorische Übungen dürfen nur moderat, d. h. unter der Leistungsgrenze des Patienten durchgeführt werden! Empfehlenswert sind Elemente aus der facio-oralen-Tract-Therapie (F.O.T.T.) und den Castillo Morales Therapiekonzepten. Eisstimulation im Mundinnenraum regt die Schluckbereitschaft an. Im Gesichtsbereich können Wärme, Massage sowie kurze Eisstimulationen, je nach Zielsetzung, gute Impulse setzen. Eine Mundbodenmassage kann die Schluckreflextriggerung unterstützen. Während dieser Maßnahmen steigt die Schluckfrequenz deutlich. Auch hier muss immer genau beobachtet werden, ob der motorische Ablauf sicher erfolgt. Eine brodelige Stimme ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass nicht mehr sicher abgeschluckt wird.

Der Schwerpunkt der logopädischen Arbeit liegt im adaptiven (Hilfsmittel, Andicken von Flüssigkeit, geeignete Nahrungsmittel) und im restituierenden Bereich (Hinauszögern der Funktionsverluste).
Kompensatorische Maßnahmen wie beispielsweise eine spezielle Kopf- oder Körperhaltung, die das Schlucken erleichtert, können individuell eingesetzt werden.
 

Ergotherapie

Ergotherapie trägt ebenso wie Physiotherapie und Logopädie dazu bei, Fähigkeiten möglichst lange zu erhalten. Entsprechend der Übersetzung des griechischen Wortes „ergon“ (Tun, Werk) stellt die Ergotherapie den Handlungsaspekt in den Mittelpunkt ihrer Maßnahmen. Ganz alltagsnah soll die Handlungsfähigkeit im täglichen Leben, in Beruf und Freizeit verbessert werden. Dazu gehört auch die Versorgung und Anpassung geeigneter Hilfsmittel. Mehr zum Thema Hilfsmittel finden Sie in den Kapiteln „Selbstständigkeit und Mobilität“ und „Pflege und Versorgung“.

Im Rahmen der Ergotherapie können:

  • die Umgebung (z. B. Wohnung, Arbeitsplatz) an die Bedingungen der Betroffenen angepasst und / oder
  • dem Betroffenen Strategien vermittelt werden, wie er mit seinen Beeinträchtigungen Handlungskompetenzen erlangen und in seinen Lebensbereichen zurechtkommen kann.

Die Ziele werden gemeinsam mit dem Betroffenen und ggf. mit seiner Familie festgelegt. Auch die Angehörigen sollten im Rahmen ergotherapeutischer Maßnahmen beraten und angeleitet werden. Entlastung erfahren sie durch Anregungen zum Erhalt von Selbständigkeit des Betroffenen innerhalb seiner krankheitsbedingt eingeschränkten Möglichkeiten und zur Optimierung von alltäglichen Abläufen im häuslichen Umfeld.

Ein Behandlungsplan kann folgende Maßnahmen enthalten:

Funktionelle Therapie

  • Erarbeiten ökonomischer Bewegungsabläufe
  • Funktionstraining der oberen Extremitäten
  • Erlernen von kompensatorischen Fertigkeiten (z. B. Einüben des Gebrauchs der linken statt der rechten Hand, Erlernen von Ersatzfunktionen durch Einsatz von Hilfsmitteln)
  • Anleitung zum Umgang mit individuellen Belastungsgrenzen

Training der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL)

  • An- und Auskleiden
  • Nahrungsaufnahme
  • Körperpflege
  • Lagerung und Transfers
  • Rollstuhltraining in der Wohnung und im öffentlichen Leben
  • Anleitung der Angehörigen in Bezug auf Hilfestellung

Versorgung mit technischen Hilfsmitteln

  • Hilfsmittelberatung, Erprobung und Anpassung
  • Anleitung bei der Anwendung von Hilfsmitteln
  • Beratung zu Maßnahmen und Veränderungen im häuslichen und beruflichen Umfeld
  • PKW-Anpassung

Allgemein

  • kontinuierliche Begleitung beim Fortschreiten der Erkrankung
  • Förderung von Kreativität und Motivation
  • Unterstützung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

Weiterführende Informationen

DGM-Infodienst für Mitglieder: mit den Themen

  • Verordnung von Heilmitteln (z. B. Physiotherapie) bei neuromuskulären Erkrankungen
  • Ausgewählte Fachbücher zu Neuromuskulären Erkrankungen

DGM-Informationen zum Download: