Atemtherapie & außerklinische Beatmung
Atemstörungen bei Neuromuskulären Erkrankungen
Viele neuromuskuläre Erkrankungen (NME) können im Verlauf zu Atmungsstörungen führen; dies gilt sowohl für Muskelerkrankungen als auch für periphere Neuropathien und Motoneuronerkrankungen. Atmungsstörungen bei NME betreffen in aller Regel nicht die Lunge selbst, sondern sind auf eine Schwäche derjenigen Muskeln zurückzuführen, die für die Einatmung, die kräftige Ausatmung (= Husten) oder das Offenhalten des oberen Atemwegs im Schlaf eine Rolle spielen.
Je nach Krankheitsbild und Schweregrad im Einzelfall stellt die Atemmuskelschwäche einen wichtigen Krankheitsaspekt dar, weil sie zu belastenden Symptomen führen, als einschneidend erlebte Behandlungsmaßnahmen erfordern und die Gesamtprognose der Erkrankung maßgeblich beeinflussen kann. Darum ist es von großer Bedeutung, dass sowohl behandelnde Ärztinnen und Ärzte als auch Betroffene selbst für das Thema „Atmungsstörungen“ sensibilisiert sind, um die entsprechenden Symptome frühzeitig zu erkennen und die für Diagnose und Behandlung richtigen Maßnahmen zu ergreifen.
Formen und Folgen der Atemmuskelschwäche
Oberer Atemweg
Eine gesunde Rachenmuskulatur ist die Voraussetzung dafür, dass die Luft beim Atmen ungestört den oberen Atemweg durchströmen kann. Bei vielen NME ist auch die Rachenmuskulatur betroffen, so dass ein erhöhtes Risiko besteht, dass es während des Schlafes immer wieder zu einer vorübergehenden Verlegung des oberen Atemwegs kommt. Dies wird als obstruktive Schlafapnoe bezeichnet, führt zu wiederkehrenden Atempausen mit Sauerstoffmangel, kann den Schlaf empfindlich stören und Tageschläfrigkeit hervorrufen. Diese Form der Schlafapnoe tritt bei vielen NME gehäuft auf und ist dabei unabhängig von anderen Risikofaktoren wie höherem Alter, männlichem Geschlecht oder Übergewicht.
Einatmung
Das Zwerchfell ist der für die Einatmung wichtigste Atemmuskel, der die Ruheatmung am Tag und die Atmung im Schlaf weitgehend allein übernimmt. Symptome einer Zwerchfellschwäche können sich darum sowohl tagsüber als auch in der Nacht bemerkbar machen. Am Tag stehen Kurzatmigkeit und eine verringerte körperliche Belastbarkeit im Vordergrund, während es nachts zu Luftnot im Liegen, Durchschlafstörungen und einem nicht erholsamen Schlaf kommen kann. Die Zwerchfellschwäche verursacht eine sogenannte restriktive Ventilationsstörung, bei der nicht mehr ausreichend Luft in die Lungen gelangt, um genügend Sauerstoff aufzunehmen und vor allem gleichzeitig auch Kohlendioxid (CO2) abzuatmen. Eine restriktive Ventilationsstörung kann durch eine Verformung der Wirbelsäule oder des Brustkorbs, z. B. eine neuromuskuläre Skoliose, noch weiter verstärkt werden.
Restriktive Ventilationsstörungen treten auf im Zusammenhang mit
- Erkrankungen der Vorderhornzellen (u.a. spinale Muskelatrophie, Amyotrophe Lateralsklerose, Poliomyelitis und Postpolio-Syndrom)
- Erkrankungen der peripheren Nerven (Guillain-Barré-Syndrom, schwere Verlaufsformen erblicher Neuropathien)
- Störungen der neuromuskulären Übertragung (Myasthenia gravis, myasthenes Syndrom Lambert-Eaton, kongenitale myasthene Syndrome)
- Muskelerkrankungen (Muskeldystrophien, Myopathien)
Betroffene mit NME und Zwerchfellschwäche haben in den allermeisten Fällen eine gesunde Lunge. Darum tritt das Problem, Kohlenstoffdioxid (CO2) nicht ausreichend abatmen zu können, sehr viel früher auf als eine Unterversorgung mit Sauerstoff. Als Folge der zu flachen Atmung (Hypoventilation), die immer im Schlaf beginnt und sich mit weiterem Voranschreiten der Erkrankung auch auf den Tag ausweiten kann, kommt es zu einem Anstieg des CO2 im Blut. Dies führt zu Durchschlafstörungen, Kopfschmerzen (vor allem am Morgen), Erschöpfung und Tagesschläfrigkeit. Außerdem kann es in gewissen Grenzen zu einem reflektorischen Anstieg der Atemfrequenz kommen, was eine vermehrte Atemarbeit mit sich bringt, zusätzliche Anstrengung bedeutet und das ohnehin geschwächte Zwerchfell noch mehr belastet. Besonders wichtig ist, dass bei Menschen mit einem chronisch erhöhten CO2-Gehalt im Blut das Atemzentrum im Gehirn nur noch auf Sauerstoff reagiert. Darum ist die alleinige Gabe von Sauerstoff bei Betroffenen mit einer länger bestehenden Hypoventilation in der Regel nicht zielführend (weil sie die Abatmung von CO2 nicht verbessert) und oft sogar gefährlich (weil sie den Atemantrieb verringert und CO2 im Blut dann noch weiter ansteigt). Die einzige angemessene Therapie der Hypoventilation ist daher die nicht-invasive oder invasive Beatmung.
Hustenschwäche
Das normale Ausatmen kommt durch die passiven Rückstellkräfte von Brustkorb und Lunge zustande, so dass dafür kein aktiver Einsatz von Muskeln erforderlich ist. Beim Husten werden dagegen die inneren Zwischenrippenmuskeln und vor allem die Muskulatur der Bauchwand aktiviert. Gleichzeitig setzt ein effektiver Hustenstoß voraus, dass zum einen vorher möglichst viel Luft eingeatmet und zum anderen unmittelbar vor dem Husten der Kehlkopf einmal vollständig geschlossen wird, damit in der Lunge hinreichend Druck aufgebaut werden kann. Jeder dieser Schritte kann bei Vorliegen einer NME gestört sein, so dass der Hustenstoß abgeschwächt oder sogar ganz aufgehoben sein kann. Besonders häufig tritt dieses Problem bei ALS, spinaler Muskelatrophie und schweren Muskeldystrophien auf. Da effektives Husten für die regelmäßige Beseitigung von Sekret aus den Atemwegen wichtig ist und Atemwegsinfekten vorbeugt, benötigen viele NME-Betroffene auch hier Unterstützung und Behandlung, oft spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem auch eine Beatmungstherapie erforderlich wird.
Diagnostik
Erster und wichtigster Schritt zur richtigen Diagnose ist eine ausführliche Befragung (Anamneseerhebung) zu möglichen Symptomen einer Atemmuskelschwäche oder schlafbezogenen Atmungsstörung. Zweiter Schritt ist eine sorgfältige körperliche Untersuchung, bei der u. a. auf die Atemfrequenz, den Einsatz der Atemhilfsmuskulatur und auf Luftnot im Liegen geachtet wird. Apparative Untersuchungen umfassen die Lungenfunktionsdiagnostik, ggf. die gezielte Messung der Atemmuskelkraft und des Hustenspitzenstoßes, die Blutgasanalyse und schließlich die Untersuchung im Schlaflabor mittels Polygraphie oder Polysomnographie. Wichtig ist, dass nur ein kleiner Teil aller Schlaflabore über die technische Möglichkeit zur nächtlichen CO2-Messung verfügt. Diese ist bei Betroffenen mit NME aber zwingend erforderlich, weil die alleinige Sauerstoffmessung im Schlaf (die in jedem Schlaflabor durchgeführt wird) in ca. 1/3 der Fälle eine behandlungsbedürftige Hypoventilation „übersieht“. Die Untersuchung der Atemmuskel-/Lungenfunktion und die Schlaflabordiagnostik sind auch dann sinnvoll, wenn nur geringe Symptome vorliegen. Die Atemmuskelschwäche entwickelt sich in der Regel schleichend und bleibt häufig von Betroffenen anfangs unbemerkt, wenn z. B. die krankheitsbedingte Einschränkung der Mobilität so groß ist, dass Luftnot bei Belastung im Alltag gar nicht mehr auftreten kann.
Therapie
Atmungs- und Physiotherapie
Menschen mit NME profitieren von physiotherapeutischen Behandlungskonzepten auf neurophysiologischer Grundlage und sollten möglichst Therapeutinnen oder Therapeuten aufsuchen, die in der Behandlung von sowohl NME als auch Atmungsstörungen erfahren sind. Ziel der Atmungstherapie ist es, mittels Schulung der eigenen Wahrnehmung die Überlastung der Atemmuskulatur zu senken. Je nach Ausprägung der Atemmuskelschwäche kommen unterschiedliche physiotherapeutische Maßnahmen zum Einsatz. Hierzu zählen die Vermittlung atmungserleichternder Körperhaltungen im Alltag, passive Dehnübungen zur Verbesserung der Beweglichkeit des Brustkorbs, sekretlösende Maßnahmen und manuell unterstütztes Husten. In- und exspiratorisches Atemmuskeltraining beruht auf dem Prinzip der Stenoseatmung (Atmen gegen Widerstand) und kann zumindest bei langsam fortschreitenden NME eine Verbesserung der Atemmuskelkraft bewirken. .
In diesem Video sehen Sie, dass Atemphysiotherapie durchaus Spaß machen kann.
Therapie der obstruktiven Schlafapnoe
Goldstandard zur Behandlung der obstruktiven Schlafapnoe ist die nächtliche CPAP-Therapie, bei der über eine Maske Raumluft mit einem gleichbleibenden Überdruck in den oberen Atemweg einströmt, so dass es im Schlaf nicht zum Verschluss des Rachens und zu Atempausen kommen kann. Bei der automatischen CPAP- bzw. APAP-Therapie wird der Überdruck vom Therapiegerät langsam angepasst, so dass auf Schwankungen im Durchmesser des oberen Atemwegs, z.B. durch Lagewechsel im Schlaf, reagiert werden kann. Die CPAP-/APAP-Therapie ist keine Beatmung, sondern eine druckunterstützte Spontanatmung. Bei Personen mit NME und einer behandlungsbedürftigen obstruktiven Schlafapnoe sollte sie nur dann eingesetzt werden, wenn eine höhergradige Zwerchfellschwäche und eine nächtliche Hypoventilation sicher ausgeschlossen sind.
Außerklinische Beatmung
Von außerklinischer Beatmung spricht man bei vorübergehender oder dauerhafter Anwendung einer mechanischen Beatmung unter häuslichen Bedingungen oder in Pflegeeinrichtungen. Die Beatmung kann nicht-invasiv über eine Maske, aber auch invasiv über einen Luftröhrenschnitt (Tracheostoma) erfolgen. In beiden Fällen strömt Raumluft mit wechselndem Überdruck in die Atemwege ein. Der höhere (Einatmungs-)Druck befüllt die Lungen mit so viel Luft, dass hinreichend CO2 abgeatmet und Sauerstoff aufgenommen werden kann. Der niedrigere (Ausatmungs-)Druck entspricht einem CPAP-Druck und hält den oberen Atemweg offen.

Die Beatmung kann über die Druckeinstellungen, das zugeführte Luftvolumen und die vom Gerät vorgegebene Beatmungsfrequenz gesteuert werden. Für die außerklinische Beatmung werden in der Regel Geräteeinstellungen gewählt, die es dem Betroffenen erlauben, auch bei eigenen Atemzügen unterstützt zu werden. Überschreitet die Beatmungszeit 16 Stunden am Tag, spricht man von einer lebenserhaltenden Beatmung, was die Versorgung mit zwei Therapiegeräten erforderlich macht.
Indikationsstellung
Die Indikation zur außerklinischen Beatmung wird in einer Klinik bzw. einem Beatmungszentrum mit entsprechender Erfahrung und technischer Ausstattung gestellt. Neben den subjektiven Beschwerden sind die objektiven Befunde der Lungenfunktionsdiagnostik, Atemmuskelkraftmessung, Blutgasanalyse und Schlaflaboruntersuchung ausschlaggebend. Die Indikationsstellung erfolgt in Deutschland anhand von Kriterien, die in einer Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) e. V. festgelegt sind und unter Beteiligung zahlreicher anderer medizinischer Fachgesellschaften (u. a. Deutsche Gesellschaft für Neurologie und Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für außerklinische Beatmung) zuletzt 2024 aktualisiert wurden.
Neben medizinischen Gesichtspunkten spielen auch andere Aspekte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zur außerklinischen Beatmung, so z. B. der persönliche Wille der betroffenen Person, der individuelle Gesundheitszustand, die soziale und biographische Situation und das Vorhandensein einer geeigneten Pflege- bzw. Versorgungsstruktur. In vielen Fällen begründet die außerklinische Beatmung einen besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege, z. B. wenn sie deutlich über die Nacht hinaus oder sogar zur lebenserhaltenden Therapie eingesetzt wird. Dann besteht die Notwendigkeit der ständigen Anwesenheit und Einsatzbereitschaft einer geeigneten Pflegefachkraft, was die Grundlage zur Verordnung von außerklinischer Intensivpflege darstellt.
Weiterführende Infos
Im Download finden Sie Hinweise zu den Zielen der außerklinischen Beatmung, zur Aufklärung von Betroffenen und ihrem Umfeld, zur Hustenassistenz und zur Tracheotomie.
Beatmungszentren
Die Indikationsstellung der Beatmung sollte unbedingt in einem qualifizierten Beatmungszentrum erfolgen, das Erfahrungen bei der Behandlung neuromuskulärer Erkrankungen hat. Ziel dieser Zentren ist es, dem beatmungspflichtigen Menschen ein selbstbestimmtes Leben im Umfeld seiner Wahl zu ermöglichen und so seine Lebensqualität zu verbessern oder zu erhalten. Sie verfügen jeweils über ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Fachärzten, Fachpflegekräften, Sozialarbeitenden, Therapeuten und sind vernetzt mit außerklinischen Pflegediensten, Geräteprovidern und Leistungsträgern.
Zu den wesentlichen Aufgaben eines Beatmungszentrums gehören die:
- Beurteilung und Anpassung des Beatmungsbedarfes
- Umfassende Beratung der Patienten und ggf. ihrer Angehörigen
- Diagnostik und Therapie von Begleitproblematiken, die während der Beatmung auftreten können (z.B. Sprechen, Husten, Sekretmanagement, Ernährung, Mobilisation)
- Planung der außerklinischen Versorgung (Pflege, Ernährung, Hilfsmittel, Kostenübernahme)
- Technische Ausstattung der Beatmung inkl. Zubehör
- Psychosoziale Betreuung der Patienten und ggf. ihrer Angehörigen
- Langfristige Begleitung außerklinisch beatmeter Patienten.
Im nachfolgenden Download finden Sie geeignete Einrichtungen für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche:
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