Kommunikation und Sprechen bei ALS

Ingrid Wellinger, Logopädin Abteilung Neurologie, Klinik Hoher Meißner,  Bad Sooden-Allendorf

„Der Verlust der Sprache war für uns das Schlimmste!“ - Diese Aussage hört man nicht selten sowohl von Patienten als auch deren Angehörigen. Neben all den Einschränkungen, die die Erkrankung ALS mit sich bringt, ist die Beeinträchtigung der Fähigkeit, seine Gedanken, Wünsche und Bedürfnisse adäquat auszudrücken, also auf gewohnte Weise mit der Familie, Freunden und dem weiteren sozialen Umfeld zu kommunizieren, eine besonders schwerwiegende Folge der Erkrankung. Während die zunehmenden Beeinträchtigungen der Mobilität häufig bereits ein Abschiednehmen von beruflichen und privaten Aktivitäten bedeuten, so ist mit der Störung der Sprache das elementare Bedürfnis nach Austausch mit anderen Menschen, der Übermittlung eigener Wünsche, Gedanken und Gefühle betroffen.

Patienten, denen ein verständliches Sprechen schwerfällt, halten sich oft aus Gesprächen heraus, nehmen nicht mehr aktiv Kontakt auf und ziehen sich auf diese Weise immer mehr aus dem sozialen Leben zurück. 

Nahe Angehörigen sind als wichtigste Gesprächspartner ebenfalls von der zunehmenden Kommunikationseinschränkung ihres Partners betroffen. Als Zuhörer sind sie in einer neuen Rolle, die von ihnen ein verändertes Kommunikationsverhalten, viel Geduld, Aufmerksamkeit und Zuwendung erfordert. ALS bedeutet also auch in diesem Bereich für beide Seiten zunächst eine zusätzliche Belastung und Anstrengung. 

In meiner langjährigen klinischen Erfahrung mit ALS-Patienten und deren Angehörigen erlebe ich jedoch erstaunlicherweise immer wieder, wie gut die Verständigung zwischen den Partnern funktioniert, selbst wenn die Sprechfähigkeit des Betroffenen stark eingeschränkt ist. Wenn Angehörige in der Therapie mit dabei sind, zeigt sich oft ein gut eingespieltes Team, das im Alltag bereits viele hilfreiche Strategien einsetzt, um noch vorhandene Ressourcen zu nutzen.

Die Antwort eines Angehörigen auf meine Frage nach der Verständigung im Alltag „wir verstehen uns auch ohne Sprache“ drückt sehr gut aus, dass Kommunikation viel mehr ist als gesprochene Sprache, dass sie auch und vor allem gelebte Beziehung, gemeinsames Erleben, Austausch und Teilhabe am sozialen Leben bedeutet und somit wesentlich zur Lebensqualität beiträgt. 
 

Welche Veränderungen der Sprache können bei der Erkrankung ALS auftreten?

Zunächst sollen typische Veränderungen der Sprache benannt werden, wobei die Symptomatik vor allem in der ersten Zeit der Erkrankung eine große Bandbreite zeigt, abhängig von der Ausprägung peripherer und zentraler Anteile der Schädigung. Ist das Sprechen und das Schlucken bereits zu Beginn der Erkrankung betroffen, spricht man von der bulbären Form der ALS. 

Die Sprechstörung (Fachbegriff: Dysarthrie oder Dysarthrophonie) kann zunächst sehr diskret sein, so dass nur der Patient und vertraute Personen eine Veränderung feststellen wie z. B. ein leichtes „Lispeln“, wenn die Zischlaute wie „s“ und „z“, die eine präzise Koordination der vorderen Zunge erfordern, gestört sind.

Die zunehmende Schwäche der Muskulatur zeigt sich vor allem bei längerem Sprechen. Dies ist ein Hinweis auf die Ermüdung der Sprechmuskulatur. Während der Betroffene zuvor lange Gespräche führen konnte, muss er sich nun nach einiger Zeit verstärkt auf die Sprechbewegungen konzentrieren, um die gewohnte Artikulationsschärfe beizubehalten.

Schwierig wird im weiteren Verlauf die Bildung von sogenannten Plosivlauten (p, t, k), die einen vermehrten Spannungsaufbau und ein rasches Lösen an Lippen (p), Vorderzunge (t) oder Gaumensegel und Hinterzunge (k) verlangen. Das gilt auch für schnelle Wechsel der Artikulationszonen oder der beteiligten Muskulatur, wie sie bei Konsonantenverbindungen erforderlich sind, z. B. bei „str“, „kl“, „pfl“, „spr“.

Die eingeschränkte Rundung der Lippen und verminderte Kieferbeweglichkeit äußern sich in einem veränderten Klangbild der Vokale, oft klingt das Sprechen kloßig (wie Richtung Rachen gerutscht) und nasal.

Manchmal kann die Aussprache zunächst noch sehr gut sein, aber die Stimme klingt verändert, heiser und rau wie bei einer Erkältung oder ist leise, behaucht und kraftlos, so dass lautes Sprechen oder Rufen nicht mehr möglich ist. Die Tonlage kann höher oder tiefer sein, das Singen geht nicht mehr, vor allem die höheren Töne.

Wie hier deutlich wird, können die Symptome sehr unterschiedlich sein und zentrale Anteile wie ein erhöhter Tonus mit Verspannungen oder der Muskelabbau mit Atrophiezeichen wie z. B. Furchungen und unwillkürliche Zuckungen der Zunge (Fibrillationen) im Vordergrund stehen. Allgemein kommt es durch die Muskelschwäche zur Verlangsamung von Bewegungen der Sprechmuskulatur. Auch bei noch guter Verständlichkeit können so Spontaneität und Schlagfertigkeit im Gespräch bereits leiden. Ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor auf das Sprechen ist die nachlassende Atemfunktion, so dass die Betroffenen viel häufiger geräuschvoll Luft holen müssen und das Sprechen dadurch angestrengt und abgehackt klingen kann. Die Auswirkungen der Symptome in den genannten Bereichen Atmung, Artikulation und Stimme verstärken sich gegenseitig und erfordern eine hohe Konzentration auf den Sprechvorgang, so dass ein flexibles, spontanes Reagieren im Gespräch erschwert ist.
 

Strategien zur Erleichterung der Kommunikation zwischen Betroffenen und Angehörigen

Verständlicherweise versuchen die meisten Patienten, sich so lange wie möglich mündlich auszudrücken – trotz oft erheblicher Sprechanstrengung und verwaschener Aussprache. Äußerungen müssen vom Betroffenen immer häufiger wiederholt werden, bis sie vom Gesprächspartner verstanden werden. Dies kann zu einer erheblichen Überlastung der Muskulatur führen und außerdem für beide Seiten eine zunehmende Belastung der Beziehung bedeuten. Unmut und Frustration können die Folge sein.

Daher sollte frühzeitig auch über alternative Kommunikationsformen (Sprachcomputer, Sprach-Apps für mobile Endgeräte wie Handy oder Tabletcomputer) nachgedacht werden, die dem Betroffenen helfen, sich weiterhin mitzuteilen und zugleich die strapazierte Muskulatur zu entlasten (siehe Kapitel: Unterstützte Kommunikation).

Im Folgenden werden Empfehlungen genannt, die eine gelingende Kommunikation unterstützen können. So naheliegend diese Hinweise erscheinen, so werden sie doch oft missachtet, sei es aus Zeitgründen oder falsch verstandener Hilfsbereitschaft und Fürsorge. So wird z. B. das gut gemeinte Vervollständigen von Äußerungen von Betroffenen oft nicht gewünscht. Auch berichten viele Patienten, dass sie sich in geselligen Runden zurückhalten, da sie annehmen, nicht genug Zeit für ihre Beiträge zu haben bzw. sich nicht schnell genug zu Wort melden können. 

Diese Beispiele verdeutlichen, wie wichtig es ist, im familiären Umfeld und Freundeskreis gemeinsam zu klären, welche Hilfestellungen erwünscht und praktikabel sind, um die Akzeptanz beider Seiten zu gewährleisten und die Beziehung nicht unnötig zu belasten.

Bei den folgenden Tipps geht es mehr um die Optimierung der Rahmenbedingungen eines Gespräches, also vor allem um die formale Seite. Dass die Krise der schweren Erkrankung des Partners sich auch auf die Gesprächsinhalte, die psychische Verfassung und Gestimmtheit, das Rollenverständnis, allgemein auf die Beziehung zwischen den Partnern auswirkt, versteht sich von selbst. Stehen Trauer, Depression, negative Gedanken im Vordergrund, sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Eine begleitende Psychotherapie kann hilfreich sein, um ein neues Gleichgewicht zu finden (siehe Kapitel „Hilfen bei der Auseinandersetzung mit der Erkrankung“).
 

Was können Angehörige bzw. Freunde tun, um dem Erkrankten das Gespräch zu erleichtern?

  • Nehmen Sie sich Zeit für das Gespräch und sorgen Sie für eine entspannte Atmosphäre. Wenn Sie eigentlich gerade etwas anderes machen wollen, bedeutet das oft Stress, wodurch die Sprechfähigkeit des Partners zusätzlich leiden kann. Vereinbaren Sie ggf. einen späteren Zeitpunkt für das Gespräch, falls das Thema/Anliegen Aufschub duldet.
  • Ihre volle Aufmerksamkeit, viel Geduld und Blickkontakt spielen eine zentrale Rolle für eine gelingende Kommunikation.  Anstrengende Kopfbewegungen sind nicht erforderlich, wenn Sie einander gegenüber sitzen. Durch Beobachtung der Lippenbewegungen und des Gesichtsausdrucks können Sie das Gesagte sowie auch Stimmung und Gefühle Ihres Gesprächspartners leichter verstehen.
  • Sorgen Sie dafür, dass Ihr Angehöriger eine möglichst aufrechte Sitzhaltung einnimmt, da diese bereits zu einer Erleichterung beim Sprechen führen kann. Eine gute Körperaufrichtung führt nicht nur zu einer verbesserten Körperspannung, die für die Sprechbewegungen genutzt werden kann, sondern vor allem auch zu einer leichteren Atmung, die wiederum entscheidend für das Sprechen ist. Passende Hilfsmittel können die Aufrichtung unterstützen (z. B. Kissen, die im Rücken positioniert werden oder ein minimal aufgeblasener weicher Ball, der sich optimal anpassen lässt). Tipps erhalten Sie von Ihren behandelnden Therapeuten.
  • Wenn Ihr Partner einverstanden ist, können Sie ihn an hilfreiche Techniken aus der logopädischen Therapie erinnern: Das kann z. B. die Aufforderung sein, vor Sprechbeginn auszuatmen bzw. auf Atempausen zu achten oder zwischendurch Speichel abzuschlucken oder störende Sekretansammlungen im Rachenraum abzuhusten. Bei trockenem Mund können Sie ihn zum Trinken auffordern. Auch die Durchführung kurzfristig wirksamer Maßnahmen, z. B. die Stimulation mit Eis im Mundbereich kann helfen, für einige Zeit das Sprechen weniger anstrengend und hörbar deutlicher machen. Aufgrund der schnelleren Ermüdbarkeit der Muskulatur kann es auch sinnvoll sein, vor dem Gespräch Lockerungsmaßnahmen im Gesicht oder Mundraum durchzuführen (z. B. Gesichtsmassagen mit einem Massagegerät, Dehnung der Zungen- und Wangenmuskulatur).

Hinweis

Entscheidend ist die vorherige Klärung der Wünsche und Bedürfnisse Ihres Angehörigen, um zu vermeiden, dass er oder sie sich bevormundet oder wie in einer Therapiesituation fühlt!

  • Bei weitgehend unverständlicher Sprache ist es wichtig, passende Hilfsmittel zur Unterstützung der Kommunikation parat zu haben. Bei erhaltener Schreibfähigkeit können das Stift und Papier sein bis hin zur jeweiligen elektronischen Kommunikationshilfe.
  • Bei einfachen Sachverhalten, die mit dem Partner zu klären sind, sollten Fragen so gestellt werden, dass Ihr Angehöriger mit „Ja“ oder „Nein“ antworten bzw. mit dem vereinbarten Zeichen für Ja oder Nein reagieren kann.
     

Was hilft Betroffenen, sich verständlich mitzuteilen?

  • Bei Terminen außer Haus ohne Angehörige kann ein Ausweis (siehe Kapitel Unterstützte Kommunikation) nützlich sein, der die Gesprächspartner über die Sprechstörung informiert und dadurch hilft, Missverständnisse oder unangenehme Reaktionen zu vermeiden (Fehleinschätzung als Betrunkener oder als jemand, der auch Probleme mit dem Verstehen hat).
  • Günstige Rahmenbedingungen wie bequeme, möglichst aufrechte Sitzhaltung, ruhige, Umgebung etc. gelten natürlich für beide Seiten.
  • Versuchen Sie, Ihre Kraftressourcen zu schonen, indem Sie kurze Sätze bilden, bei starker Anstrengung evtl. auch nur Stichworte nennen. Ist das Thema klar, kann der Gesprächspartner vieles erschließen. Bei sprechtechnisch besonders schwierigen Wörtern, kann es hilfreich sein, ein einfacher zu sprechendes Synonym zu verwenden.
  • Wenn Sie ein neues Thema ansprechen wollen, weisen Sie darauf hin (ggf. durch vorher gemeinsam vereinbarte Zeichen, Gesten)
  • Setzen Sie gezielt Atempausen ein und machen Sie den Gesprächspartner aufmerksam, wenn Sie eine Pause brauchen.
  • Gespräche mit fremden Personen und in größeren Runden fallen besonders schwer. Bei Teilnahme vorher klären, mit welchen Zeichen Sie auf Ihren Gesprächswunsch hinweisen und Beteiligte über die Situation aufklären, damit Ihnen genug Zeit und Raum gegeben wird.
  • Schließlich möchte ich noch auf die vielfältigen Möglichkeiten der Kommunikation und sozialen Teilhabe im Zeitalter von Facebook und Co. hinweisen. Im Internet und in den sozialen Netzwerken können Sie sich weitgehend unbehindert bewegen, Entfernungen virtuell überwinden, Informationen einholen, Kontakte selbstbestimmt und unabhängig von Mobilität oder Sprechvermögen pflegen, Erfahrungen mit anderen austauschen und sich damit neue selbstbestimmte Handlungsfelder erschließen. Beispielsweise lässt sich eine E-Mail, selbst bei nicht ausreichender Handfunktion, über eine Augensteuerung verschicken. Mehr dazu finden Sie im Menüpunkt Unterstützte Kommunikation.