Der Herausforderung begegnen

Im Falle einer ALS-Diagnose kommen unerwartet und plötzlich existentielle Fragen auf Sie zu. Es bedarf Zeit, um sich in diese neue Situation einzufinden. Dies gilt auch für Ihre Familie und Ihr Umfeld. Am Anfang stehen fast immer Wut und Verzweiflung oder große Traurigkeit. Jeder Mensch sucht in dieser Situation seinen eigenen Weg um mit den Herausforderungen umzugehen. 

Viele Menschen mit einer schwerwiegenden Erkrankung versuchen eine Zeit lang, die Bedrohung durch die Krankheit mit Hilfe einer positiven Lebenshaltung von sich fern zu halten. Zugleich wissen sie, dass sie ernsthaft krank sind und dies eines Tages akzeptieren müssen. Manche Menschen entscheiden sich gegen die Krankheit anzukämpfen. Andere versuchen Tag für Tag mit den Anforderungen umzugehen, die durch die Erkrankung auf sie zukommen.

Die ALS-Erkrankung hat Einfluss auf familiäre Beziehungen. Die Krankheit kann bei allen Beteiligten ungeahnte Kräfte wecken. Sie kann aber auch Gefühle hervorrufen, mit denen es schwer ist umzugehen. Die DGM will Ihnen und Ihrer Familie dabei helfen, Mut zu fassen und mit der ALS-Erkrankung zu leben. Mehr über unsere Hilfs- und Unterstützungsangebote finden Sie im letzten Kapitel dieses Handbuchs. Im vorliegenden Abschnitt wollen wir Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung Möglichkeiten zeigen, wie Sie einen persönlichen Weg im Umgang mit dieser Erkrankung finden können.

Veränderungen –  was kommt auf mich zu? 

Im Leben jedes Menschen, in seinen Beziehungen zur Familie und Freunden, Kindern und Kollegen gibt es immer wieder Veränderungen und Phasen des Übergangs. Enge Freunde und Verwandte, auch Kinder, sollten von Ihrer ALS-Erkrankung erfahren. Nicht zu wissen was passiert, ist für die meisten Menschen schwerer zu ertragen als mit der Wahrheit umzugehen. Besonders Kinder entwickeln Ängste und beunruhigende Phantasien, wenn jemand krank ist und in ihrer Anwesenheit nicht darüber gesprochen wird. Offenheit und Wissen machen es den Menschen in Ihrer Umgebung leichter, Ihnen zu helfen und Unterstützung anzubieten. Scheuen Sie sich nicht, um Hilfe zu bitten. Oft wissen Menschen nicht, was sie sagen oder wie sie helfen können. Die meisten Menschen, besonders die direkten Angehörigen, sind sehr froh, wenn sie hilfreich sein können.

Vielen Menschen fällt der Umgang mit einer Erkrankung generell schwer. Manche können in einer so schwierigen Situation nicht verbindlich und verlässlich helfen. Es kommt vor, dass Beziehungen diesem Druck nicht standhalten. Die meisten Menschen allerdings werden versuchen, Ihnen zu helfen und Sie zu unterstützen.

Strategien für die Krankheits­bewältigung des ALS-Erkrankten

Sie können das Leben mit ALS als eine Folge von Funktionsverlusten betrachten. ALS kann daneben aber auch eine intensive Erfahrung sein, die Ihr Leben nicht nur beeinträchtigt, sondern in mancher Hinsicht auch bereichert. Viele individuell verschiedene und sehr persönliche Wege sind möglich. ALS kann als Herausforderung und Lebensaufgabe begriffen werden. Eine aktive Lebensgestaltung ist auch weiterhin möglich.

Vielleicht entscheiden Sie sich, die Beziehungen innerhalb Ihrer Partnerschaft und Familie oder zu Freunden zu vertiefen. Vielleicht schließen Sie neue Freundschaften mit Menschen, mit denen Sie Ihre Erfahrungen teilen können, und mit anderen ALS-Betroffenen. Vielleicht lernen Sie Neues über Computer und wie man sich im Internet mit anderen verständigen kann. Wahrscheinlich werden Sie in Ihrer Umgebung manches neu entdecken, beachten und schätzen, was Sie bisher für selbstverständlich hielten. Vielleicht nehmen Sie sich Zeit zu lesen, Musik zu hören, sich mit spirituellen Fragen auseinander zu setzen... 

Um ein befriedigendes Leben trotz aller Einschränkungen zu führen, kommt es sehr auf Ihre innere Haltung und Vorstellungskraft an. Hoffnung, Glaube, Liebe und starker Lebenswille machen uns nicht unsterblich. Aber sie stehen für unsere Einzigartigkeit als Menschen und die Chance, unsere Möglichkeiten auch unter schwierigen Umständen zu entfalten. Eine Uhr ist nur eine sehr eingeschränkte und technische Möglichkeit, die Spanne unseres Lebens zu messen. Wichtiger als das Ticken der Uhr ist die Art und Weise, wie wir uns diese Zeit erschließen und ihr Sinn und Bedeutung geben: Wir können unserem Leben nicht mehr Tage, aber unseren Tagen mehr Leben geben. 

Die Krankheit ALS anzunehmen bedeutet nicht sich aufzugeben. Akzeptanz ist der erste Schritt auf dem Weg, das Beste aus Ihrem Leben mit ALS zu machen. Beschönigen Sie Ihre Lage nicht und seien Sie zugleich zuversichtlich. Die Krankheit kann sehr unterschiedlich verlaufen, auch Verläufe über lange Jahre kommen vor. International vernetzt schreitet die neurologische Forschung deutlich voran. Das gibt uns Hoffnung, auch wenn im Moment noch niemand sagen kann, wann ein Durchbruch erreicht werden wird.

Die richtige Balance zwischen Hoffnung und Realismus zu finden ist keine leichte Aufgabe. Sozialberatung, Psychotherapie, Beratung durch Gleichbetroffene oder Erfahrungsaustausch in einer Selbsthilfegruppe können dabei sehr hilfreich sein. Sie können Ihre Erfahrungen teilen und Verständnis finden bei Menschen, die vor denselben Herausforderungen stehen wie Sie oder von denen lernen, die bereits ein Stück weiter sind auf dem Weg mit der Erkrankung.

Bewältigungs­möglichkeiten für Familienangehörige

Ihre Erkrankung wird bei Ihren Familienangehörigen und Ihren Freunden starke Gefühle auslösen. Für gesunde Menschen ist es bisweilen schwierig, Menschen mit einer lebensverkürzenden Erkrankung zu begegnen. Vielleicht reagieren einige Familienangehörige unerwartet ungeduldig oder gereizt, sind angespannt durch die Verantwortung und die zusätzlichen Aufgaben, die sie übernehmen müssen. Manchen Angehörigen fällt es schwer mit dieser Situation zurecht zu kommen.

Suchen Sie das Gespräch. Dies ist der beste Weg, sich von verwirrenden und belastenden Gefühlen zu befreien. Sprechen Sie mit Ihrer Familie offen über Ihre Gefühle und ermutigen Sie Ihre Angehörigen ebenfalls dazu. Vielleicht ist ein Gespräch mit einem Freund, einem Verwandten oder Ihrem Hausarzt hilfreich. Weiterführend können Sie sich Unterstützung bei einer psychologischen Beratungsstelle holen oder sich an einen Psychotherapeuten wenden. Ihre Krankenkasse vermittelt Ihnen zugelassene Therapeuten, die Sie auf Ihrem Weg begleiten und unterstützen.

Zu Beginn der Erkrankung prägen Gefühle wie Verunsicherung, Hoffnung, Unglaube, Verlustangst, Liebe, Trauer, Verleugnen, Verantwortung, Verschlossenheit die Beziehungen zueinander. Durchhalten, Traurigkeit, Schuld, Einsamkeit, Neid und Eifersucht, Ärger, auch Überforderung können hinzukommen. Die Gefühle verändern sich im Verlauf immer wieder. Viele Familien gehen durch diese schwere Zeit in großer gegenseitiger Wertschätzung und Liebe und einem starken Zusammenhalt.

Meist sind Familienmitglieder in die Pflege miteingebunden. Viele ALS-Erkrankte haben den Wunsch, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben. Dadurch steigen die Anforderungen an die Angehörigen. In dieser Situation ist es besonders wichtig, dass die Pflegenden ihre eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen verlieren und so gut es geht für Ausgleich sorgen: Beziehungen pflegen, Hobbies oder eigenen Interessen nachgehen und Zeit für sich haben sind wichtige Möglichkeiten, etwas Abstand zu gewinnen, seelisch im Gleichgewicht zu bleiben und Kraft zu schöpfen für den Alltag. Sorgen Sie für regelmäßige Pausen und Entlastungsmöglichkeiten aus Ihrem weiteren Umfeld und durch professionelle Pflegehilfen.

Oft kommt es vor, dass Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen den Bedürfnissen der ALS-Erkrankten untergeordnet werden. Die Erkrankung stellt eine große Belastung dar, sowohl für den Kranken selbst, wie auch für die pflegenden Angehörigen. Pflege kann auf Dauer nur funktionieren, wenn beide Seiten in den Blick genommen werden. So sollte auch auf das Wohl der Pflegeperson geachtet werden. Denken Sie daran, dass auch jeder Angehörige in dieser Situation auf seine Bedürfnisse achten sollte. Nicht immer gelingt es, im Alltag aufmerksam dafür zu sein.