Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) und Umgang mit Notfallsituationen

Dr. med. Martin Groß, Facharzt für Neurologie, Klinik für Neurologische Intensivmedizin und Frührehabilitation, Evangelisches Krankenhaus Oldenburg

Ob man die Durchführung eines Luftröhrenschnitts wünscht, ist eine der am schwierigsten zu beantwortenden Fragen im Erkrankungsverlauf der ALS. Einerseits stellt der Luftröhrenschnitt einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Unversehrtheit des Körpers dar und zieht ein erhebliches Maß an Pflege- und Überwachungsbedarf nach sich. Andererseits kann das Vorhandensein eines Luftröhrenschnitts die Überlebenszeit deutlich verlängern und bei Problemen mit einer bereits bestehenden Maskenbeatmung das Wohlbefinden verbessern.

Hinzu kommt, dass sowohl der Kenntnisstand bezüglich der Auswirkungen des Luftröhrenschnitts als auch die persönliche Haltung gegenüber der Methode bei beratenden Ärzten äußerst unterschiedlich sind. Außerdem sind viele ärztliche Behandlungsempfehlungen nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen abgesichert.

Es ist also sehr hilfreich, über ein Grundlagenwissen über den Luftröhrenschnitt zu verfügen, um mit den beratenden Ärzten gemeinsam eine fundierte Entscheidung treffen zu können.
 

Was ist ein Luftröhrenschnitt?

Beim Luftröhrenschnitt wird unterhalb des Kehlkopfes eine künstliche Verbindung von der Vorderseite des Halses zur Luftröhre geschaffen, in die anschließend als dauerhafter, stabiler Zugang von außen zur Luftröhre und zur Lunge ein gebogenes Röhrchen eingelegt wird (Trachealkanüle). Zumeist verfügt die Trachealkanüle über einen aufblasbaren Ballon (Cuff), der die Luftröhre nach oben gegenüber dem Kehlkopf und dem darüber liegenden Rachenraum abdichtet. Dieses schützt die Luftröhre vor herablaufendem Speichel und verhindert bei der Beatmung ein Entweichen der Luft durch Mund oder Nase.
 

Welche Arten des Luftröhrenschnitts gibt es und welche ist für mich oder meinen Angehörigen geeignet?

Bei der sogenannten dilatativen Tracheotomie oder Punktionstracheotomie wird zunächst eine kleine Öffnung geschaffen, welche mit einem speziellen Instrument aufgedehnt wird. Vorteil der dilatativen Tracheotomie ist, dass diese von Ärzten der Intensivstation sehr schnell angelegt und leicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Nachteil ist die häufig auftretende schnelle Schrumpfung des Luftröhrenschnitts beim spätestens nach vier Wochen erforderlichen Wechsel der Trachealkanüle. Die chirurgische oder operative Tracheotomie wird im Rahmen einer deutlich aufwändigeren Operation durchgeführt und schafft in der Regel stabile Verhältnisse im Bereich des Luftröhrenschnitts, so dass Wechsel der Trachealkanüle durch geschulte Personen meist einfach und gefahrlos erfolgen kann.

Da der Luftröhrenschnitt bei der ALS in der Regel dauerhaft erforderlich, ist in den meisten Fällen die operative Tracheotomie anzuraten.
 

Warum wird ein Luftröhrenschnitt durchgeführt?

Ursächlich ist in erster Linie die Kombination aus einer Störung der Schluckfunktion mit Sich-Verschlucken an Nahrung und Speichel (Speichelaspiration) und einer Hustenschwäche, aufgrund derer Sekret nicht mehr aus den Bronchien und der Luftröhre abgehustet werden kann. Der resultierende Sekretverhalt führt wiederum zu Atemnot, Lungenentzündungen oder lebensbedrohlichen Verlegungen der Atemwege. Während eine Maskenbeatmung zwar eine Schwäche der Atemmuskulatur ausgleichen kann, ist sie keine effektive Behandlung der Schluckstörung und der Husteninsuffizienz. Wenn auch eine Anpassung der Kostform, sogar mit Ernährung über eine PEG-Sonde und eine intensive Atmungstherapie inklusive der Verwendung eines Hustenassistenten über die Beatmungsmaske den Sekretverhalt nicht mehr beheben können, kann der Luftröhrenschnitt als einzige Maßnahme das Überleben sichern.
 

Sollte abgewartet werden, bis der Luftröhrenschnitt notfallmäßig erfolgen muss?

Grundsätzlich werden der notfallmäßige und der nicht-notfallmäßige (elektive) Luftröhrenschnitt unterschieden. Eine Notfallsituation kann beispielsweise auftreten, wenn Atemwegsinfektionen oder medizinische Eingriffe das bereits geschwächte Atmungssystem des an ALS Erkrankten zusätzlich belasten. In diesen Fällen muss oft notfallmäßig durch den Arzt ein Beatmungsschlauch durch den Mund in die Luftröhre eingeführt werden. Bei eingetretener Stabilisierung kann dieser wieder entfernt werden, bei instabiler Atemwegssituation und entsprechendem Patientenwillen wird ein Luftröhrenschnitt angelegt. Bedauerlicherweise erfolgen viele Tracheotomien notfallmäßig, obwohl dies mit einer erheblichen Gefährdung des Lebens und der Gesundheit verbunden ist.

Empfehlenswert ist die frühzeitige Auseinandersetzung mit der Frage, ob man einen Luftröhrenschnitt als Behandlungsmöglichkeit für sich selbst akzeptiert. Hierfür ist es ratsam, einen Arzt an einem qualifizierten Behandlungszentrum, welches über Erfahrung in der Maskenbeatmung, der Schluckdiagnostik und der Behandlung von ALS-Patienten mit Luftröhrenschnitt verfügt, als Ansprechpartner zu wählen.

Der nicht-notfallmäßige (elektive) Luftröhrenschnitt ist weniger riskant und belastend als der notfallmäßige. In beiden Fällen sollte eine Frührehabilitationsmaßnahme angeschlossen werden, während derer die Hilfsmittelversorgung optimiert und die häusliche Versorgung organisiert wird.
 

Wann sollte der Übergang von der Maskenbeatmung zur Beatmung über den Luftröhrenschnitt erfolgen?

Bei ausgeprägten Lähmungen der Muskulatur im Bereich von Mund, Rachen und Kehlkopf mit resultierender schwerer Störung des Schluckens und Hustens sowie Sekretverhalt in Luftröhre und Bronchialsystem erbringt die Beatmung mit der Beatmungsmaske in der Regel weder eine Verlängerung des Überlebens, noch eine Verbesserung der Lebensqualität. Ein Luftröhrenschnitt ist dann in der Regel erforderlich.

Außerdem kann eine zunehmende Dauer der Maskenbeatmung zu Problemen mit der Toleranz der Beatmungsmaske führen (z. B. Druckstellen), in solchen Fällen ist ein Luftröhrenschnitt möglicherweise angenehmer.
 

Wie wirkt sich ein Luftröhrenschnitt auf meine Lebenserwartung aus?

Wissenschaftliche Daten geben Hinweise darauf, dass mit einer Verlängerung der Lebenserwartung durch einen Luftröhrenschnitt um 1 bis 1,5 Jahre gerechnet werden kann. Jedoch gibt es auch immer wieder Menschen mit ALS, bei denen eine weitaus größere Verlängerung der Lebensdauer durch den Luftröhrenschnitt erreicht wird. Entscheidend für eine nachhaltige Lebensverlängerung durch den Luftröhrenschnitt ist eine optimale pflegerische und atmungstherapeutische Versorgung mit optimaler Beatmungseinstellung und einem effektiven Sekretmanagement. Medikamentöse Speichelreduktion, optimale Inhalationstherapie, Einsatz von Trachealkanülen mit subglottischer Absaugung und Gebrauch eines Hustenassistenten sind bei Hustenschwäche unbedingt erforderlich.
 

Wie hoch ist die Lebensqualität nach einem Luftröhrenschnitt?

Mittlerweile ist wissenschaftlich erwiesen, dass auch Menschen mit einem mittelschweren bis schweren Behinderungsgrad eine gute, ja sogar ausgezeichnete Lebensqualität haben können. Dieses wird als Behinderungsparadox (disability paradox) bezeichnet. Auch weisen die wenigen Forschungsarbeiten zur Lebensqualität nach Luftröhrenschnitt darauf hin, dass die Lebensqualität von an ALS-Erkrankten mit und ohne Luftröhrenschnitt gleich hoch eingeschätzt wird. Da sich jedoch mutmaßlich vorwiegend Menschen, die ihre Lebensqualität ohnehin als hoch einschätzen, für einen Luftröhrenschnitt entscheiden, kann der Eingriff aufgrund der vorliegenden wissenschaftlichen Daten nicht grundsätzlich empfohlen werden. Jedoch kann geschlussfolgert werden, dass eine gute Lebensqualität auch nach einem Luftröhrenschnitt möglich ist.

Die Entscheidung für oder gegen einen Luftröhrenschnitt kann nur ganz individuell erfolgen. Sie sollte die persönliche Lebenszufriedenheit und Lebenssituation mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Optimierung von Teilhabe, pflegerischer Versorgung und Hilfsmittelausstattung einerseits, aber auch die aus medizinischer Sicht zu erwartende Lebenszeitverlängerung andererseits einbeziehen. Da im weiteren Erkrankungsverlauf sowohl aufgrund fortschreitender Lähmungen ein vollständiger Verlust der Kommunikationsfähigkeit eintreten kann, als auch die Lebensqualität im weiteren Erkrankungsverlauf deutlich nachlassen kann, sollte eine Patientenverfügung erstellt werden. Essentiell ist in jedem Fall die Beratung durch einen beatmungsmedizinisch, palliativmedizinisch und in der Unterstützen Kommunikation versierten Arzt.

Leben mit Luftröhrenschnitt aus der Sicht einer Betroffenen

„Seit über 16 Jahren bin ich an ALS erkrankt. Nach einem Herz- und Lungen-Stillstand Ende Oktober 2009, bekam ich einen Luftröhrenschnitt und werde seitdem beatmet. Ich wollte eigentlich nicht künstlich beatmet werden. Für mich war Atmung etwas so Intimes und Persönliches, dass es doch unmöglich von einer Maschine gesteuert werden könnte. Es fällt mir erst heute auf, wie ängstlich, fast panisch, ich damals bei den ersten Anzeichen von Atemnot reagierte. Um auf die nötige Sauerstoffsättigung zu kommen, musste mein Körper sich unheimlich anstrengen, was mir aber nicht mehr auffiel. Trotzdem kam ein Leben mit künstlicher Beatmung, auch Maskenbeatmung, für mich nicht in Frage. Ich wollte einfach nicht noch einen weiteren Kontrollverlust hinnehmen und fast wie „Darth Vader“ mit Schläuchen in mich und aus mir kommend, leben müssen. Heute bin ich unendlich dankbar darüber, beatmet zu werden. Wie entspannt meine Atmung heute doch ist. Mein Pflegeteam und ich fühlen uns viel sicherer heute. Natürlich müssen verschiedene Gegebenheiten eingehalten werden, damit die Sicherheit der Betroffenen gewährleistet ist. Vor allem die größte Sorgfalt und das Feingefühl bei der Pflege sind wichtig.“

Nathalie Scheer-Pfeifer, Wäertvollt Liewen, Luxemburg

Ist Sprechen mit Luftröhrenschnitt und Beatmung möglich?

Bei vielen Erkrankten kommt es nach dem Luftröhrenschnitt zu einer deutlichen Verschlechterung der Sprechfähigkeit. Wenn jedoch durch die ALS weder die Schluck- noch die Sprechmuskulatur zu stark betroffen sind, kann die Sprechfähigkeit auch unter Beatmung noch über einen längeren Zeitraum erhalten werden. Es muss dann jedoch eine geeignete Trachealkanüle ausgewählt werden und eine sorgfältige logopädische und ärztliche Einstellung in der Regel im Rahmen einer spezialisierten Frührehabilitationsbehandlung erfolgen.
 

Was bedeutet ein Luftröhrenschnitt für den Pflegebedarf und die Belastung der Angehörigen?

Der Luftröhrenschnitt bedeutet in der Regel, dass eine durchgängige Überwachung mit kurzfristiger Reaktionsbereitschaft durch speziell geschultes Pflegepersonal erfolgen muss. Die Belastung der Angehörigen durch eine solche anspruchsvolle Pflegesituation ist als überaus hoch einzuschätzen, so dass eine möglichst umfängliche Entlastung durch professionelle Pflegekräfte anzustreben ist, damit die gemeinsame Zeit als bereichernd empfunden werden kann. Auch wird hierdurch die häufig vorhandene und sich bei manchen Erkrankten bis zum Todeswunsch steigernde Befürchtung der Erkrankten gemindert, ihren Angehörigen nur noch zur Last zu fallen. Die professionelle Pflege kann zu Hause im Rahmen einer häuslichen 24-h-Intensivpflege, in einer sogenannten Intensivpflege-Wohngemeinschaft oder einer stationären Einrichtung der Phase F (aktivierende Langzeitpflege) erfolgen.
 

Welche Vorbereitungen sollten getroffen werden, damit Notfallsituationen schnell behoben werden können?

Wesentlich sind eine immer in greifbarer Nähe befindliche und am besten in einer Box oder Tasche zusammengepackte Notfallausrüstung und eine fundierte Schulung aller pflegenden Personen im Umgang mit Atmung und Atemweg. Eine detaillierte Ausführung hierzu würde den Umfang dieses Kapitels sprengen, aber im Folgenden sind wichtige Grundlagen zusammengefasst.

Zur Notfallausrüstung gehören:

  • Beatmungsbeutel
  • Notfall-Trachealkanüle (empfehlenswert: leicht einzusetzende Spiralkanüle, auf jeden Fall mit geringerem Außendurchmesser als die Standard-Trachealkanüle des Erkrankten)
  • Gleitgel
  • 10 ml-Spritze
  • Trachealkanülen-Halteband
  • Trachealspreizer
  • Beatmungsmaske in dem Patienten angemessener Größe
  • sterile Handschuhe

Bausteine der Schulung jeder Pflegeperson, auch der pflegenden Angehörigen, sollten sein:

  • Absaugen durch die Trachealkanüle
  • Umgang mit dem Insufflator-Exsufflator (Hustenassistent)
  • Wechsel der Trachealkanüle
  • Beatmung mit dem Beatmungsbeutel
  • Beatmungstechnik inklusive Schlauchsystemen, Beatmungsmasken und MPG-Geräteeinweisung auf das Heimbeatmungsgerät
  • Kardiopulmonale Reanimation