10.08.2023

Resilienz und Selbstfürsorge in der Familie

Wer schon einmal geflogen ist, erinnert sich an die Sicherheitshinweise vor dem Start! Welche zentrale Information ist mit der Demonstration verbunden, wenn bei einem Druckabfall im Flugzeug Sauerstoffmasken von der Decke fallen? …? Setzen Sie sich erst selber die Maske auf, bevor Sie anderen helfen! Dieser Akt der Selbstfürsorge ist Leitgedanke für meine Ausführungen.

Müssen Kinder gepflegt werden, so ist zumeist die Mutter die Hauptpflegeperson. Von ihr wird erwartet, dass sie sich um ihr Kind kümmert und eigene Ansprüche zurückstellt. Väter kümmern sich eher um die finanzielle Versorgung der Familie und unterstützen in der Pflege des gemeinsamen Kindes. Mit diesem Rollenbild werden wir in der Sozialberatung der DGM regelmäßig konfrontiert.

Pflege birgt ein erhöhtes Risiko für frühzeitige gesundheitliche Beeinträchtigungen. Zu Beginn der Pflege denken Pflegepersonen meist kaum an die eigene Gesundheit. Die Pflege wird selbstverständlich übernommen. Gesundheitliche Beschwerden treten erst im Laufe einer längeren, manchmal „lebenslangen“ Pflegezeit bei Eltern muskelkranker Kinder auf. Es ist erstaunlich, dass bei Pflegepersonen ein Gedanke gar nicht zu existieren scheint: „Wenn es mir gut geht, geht es auch der Person, die ich pflege gut!“ Das ist tragisch!

Wohnungstür

Situationen in Familien oder Partnerschaften

Wenn ein Kind erkrankt oder mit einer Behinderung zur Welt kommt, hinterlässt das immer Spuren bei allen Angehörigen. Sorgen und Ängste um den kleinen Liebling begleiten den Alltag. Eine Erkrankung hat immer Auswirkungen auf das Familiengeflecht. Angehörige können bei der Bewältigung einer Krise und bei der Pflege wertvolle Unterstützer sein. Gleichzeitig wirft die Erkrankung aber bei allen Beteiligten viele Fragen und Unsicherheiten auf und erzeugt ambivalente Gefühle.

Ein Kind ist kein „krankes Objekt“, das gepflegt werden muss. Jedes Kind wird von seinen Eltern und den anderen Mitgliedern der Familie geliebt. Man kann zusammen Lachen, Streiten, Kuscheln, Staunen, Neues entdecken und vieles miteinander teilen. Es gibt so vieles im Leben mit einem Kind, das nichts mit seiner Erkrankung zu tun hat! Wem es gelingt, „Die Krankheit vor die Tür zu stellen“, sie ausgrenzen, nimmt sein Kind ernst und nicht nur dessen Krankheit!

Wenn man lange Zeit eine schwere, nicht heilbare Krankheit gemeinsam trägt, dann verändert sich der Umgang mit der Krankheit. Der anfängliche Kampf gegen die Krankheit entwickelt sich allmählich zu einem Leben mit ihr – und im Idealfall zum Leben mit der „Krankheit vor der Tür“!

Pflegen ist „Schwerstarbeit“ mit langfristigen gesundheitlichen Folgen für die Pflegeperson

Langjährig Pflegende berichten von Verschleißerscheinungen des Bewegungsapparats, von chronischen Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfung, von Herz- und Magenbeschwerden, Bluthochdruck, depressiven Verstimmungen, Zukunftsängsten und abnehmender physischer und psychischer Belastbarkeit bis hin zum Burnout. Die innerliche Anspannung führt zu erhöhter Infektanfälligkeit und sozialer Isolation. Diese langjährige „Schwerstarbeit“ übersteht niemand unbeschadet, der auf sich allein gestellt ist.

In unserem Sozialsystem fehlen ausreichend Angebote der Gesundheitsförderung und Prävention, qualifizierte Betreuungsmöglichkeiten, psychosoziale Begleitung, ambulante und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen sowie umfassende Information und Beratung der Pflegepersonen.

Hinzu kommt eine fehlende Kultur des „Sich-helfen-lassens“! „Kann ich etwas für dich tun?“ „Nein danke, ich schaff‘ das schon ‚irgendwie‘ alleine!“ Die Pflegeperson will beweisen – wem eigentlich? – dass sie mit der Situation zurechtkommt, aber es ist auch die Zurückweisung eines Hilfeangebots. Ein solches Angebot wird nicht sehr oft wiederholt werden. Auch dadurch reduziert sich der Kreis potentieller Helfer!

Pflegen heißt: Körperhygiene und Ernährung sicherstellen, Begleitung zu und Durchführung von medizinisch-pflegerischen Maßnahmen, Organisation, Koordination und Überwachung technikintensiver Versorgung, Kommunikation mit professionellen Akteuren, Verhandlungen mit Kostenträgern, Behördengänge und Antragstellungen sowie Organisation von Heil- und Hilfsmitteln. Zusätzlich bestehen die täglichen Haushaltspflichten. Pflege und häuslicher Alltag müssen miteinander vereinbart werden. Wenn Berufstätigkeit der Pflegeperson hinzukommt, Geschwisterkinder zusätzlich Aufmerksamkeit verlangen und die eigenen Ansprüche auf Freizeit und Erholung virulent werden, wird Überforderung mehr als deutlich!

Gibt es keine Aussicht auf Heilung, so wird es wichtig, Strategien zu entwickeln, um in diesen herausfordernden Situationen aktionsfähig zu bleiben. Zur Bewältigung der Situation genügt es nicht, auf Wunder zu hoffen oder sich in adminsitrativen Aufgaben zu verlieren, zum Beispiel in Bau- oder Umbauplänen, Anträge bei Ämtern zu stellen, die Hilfsmittelversorgung zu managen oder sich in die Steuererklärung zu flüchten. Der Verantwortung für das zu pflegende Kind kann man sich nicht entziehen und ausschließlich im Pflegealltag aufzugehen wird für viele Pflegende zu einer Flucht vor sich selbst. Auch wenn das Engagement in einer Selbsthilfevereinigung, wie die Teilnahme an Elternkreisen, zunächst zusätzliche Arbeit bedeutet, so schöpfen doch viele Betroffene aus dieser Erfahrung viel Kraft für ihren aufreibenden Pflegealltag.

Wie ein reißender Fluss

Stellt man sich das Leben Muskelkranker und ihrer Familie als einen Fluss vor, so stellt sich die Frage: Wie kann man in diesem reißenden Fluss überleben? Wo findet sich ein Rettungsring? Wie kann ich weiter schwimmen?

Reißender Fluss

Salutogenese

Das Gleichgewicht von Risiko- und Schutzfaktoren führt zum Konzept der Salutogenese. „Salus“, lateinisch, bedeutet Unverletztheit, Heil, Glück. „Genese“ aus dem Griechischen bedeutet Entstehung. Aus Arztberichten ist der Begriff der „Pathogenese“ bekannt, die Frage nach der Entstehung der Krankheit.

Der Begriff „Salutogenese“ stammt von dem Amerikaner Aaron Antonovsky (1923 bis 1994). Seine Aussage „Es ist vermutlich besser, sich auf das zu konzentrieren, was den Menschen gesund erhält, als immense Mittel für die Erforschung der Krankheiten auszugeben.“, betont die komplementäre Seite der Erforschung der Krankheiten, die zur Entwicklung neuer und erfolgreicher Therapien führt.

Gleichgewicht von Belastung und Ressourcen

Auf dem Hintergrund seiner Forschungen stellte Antonovsky die Frage: Warum können Menschen trotz extremer körperlicher und psychischer Belastungen gesund bleiben?

Im Konzept der Salutogenese beschreibt er Gesundheit und Krankheit nicht als feststehende Zustände, die einander ausschließen, sie markieren vielmehr die beiden Endpunkte eines Kontinuums. Der Status eines Menschen auf diesem Kontinuum wird sowohl durch Belastungsfaktoren, wie auch durch seine Kraftquellen beeinflusst. Gesundheit ist die dynamische Wechselwirkung zwischen Belastungen und schützenden Faktoren.

Viele Belastungsfaktoren sind bekannt: Stress in der Familie, bei der Arbeit, das Wetter oder meine Ansprüche an mich selbst; eine ungesunde Lebensweise (Zucker, Fett, Nikotin, Alkohol, Gifte, zu wenig Schlaf), aber auch genetische Faktoren, ein Unfall oder belastende oder gar traumatisierende Ereignisse im Leben eines Menschen zählen dazu.

Antonovsky geht davon aus, dass jeder Mensch versucht, sich dem Pol der Salutogenese zu nähern, wo die Krankheit nicht mehr feststellbar ist. Unser Gesundheitssystem ist nicht auf dieses dynamische Denken ausgelegt. Wenn Sie zum Arzt gehen, werden Sie entweder „krankgeschrieben“ oder Sie sind gesund! Ärzte in der Schweiz können ihre Patienten auch zu 50 Prozent krankschreiben. Gesundheit entsteht durch drei Faktoren: Stärkung der Ressourcen, Kohärenz und Resilienz.

Was sind Ressourcen?

Ressourcen oder Kraftquellen sind das Potential jedes Menschen: seine Fertigkeiten, Neigungen, Stärken, Gewohnheiten. Wenn wir uns unserer Kraftquellen bewusst sind, können wir auf sie zurückgreifen. Ressourcen sind die Kraft, Ziele zu erreichen und damit unser Leben selbstbestimmt zu gestalten. Ressourcen sind umso wirksamer, je höher unser Kohärenzsinn ausgeprägt ist.

Was bedeutet Kohärenz?

Bei Antonovsky ist Kohärenz die Lebensorientierung, die darüber Auskunft gibt, wie man mit seinem Leben im Allgemeinen oder mit Herausforderungen klarkommt, gerade wenn es schwierig wird. Kohärenz ist die Fähigkeit, die Verbindung zwischen sich selbst und seiner Umwelt wahrzunehmen.

Was ist Resilienz?

Resilienz ist die Widerstandfähigkeit eines Menschen, die Fähigkeit, sich aus jeder Lebenslage wiederaufzurichten, wie dies in schwierigen Phasen gefordert ist. Außergewöhnliche Anforderungen und schwierige Situationen können „resilient“, ohne negative Folgen für die psychische Gesundheit bewältigt werden. Resilienz zu entwickeln, stellt einen bedeutenden Teil des psychischen Wachstums dar. Resilienz eröffnet uns die Möglichkeit, auf zukünftige Lebenswidrigkeiten, wechselnde Bedingungen und höhere Belastungen angemessen und flexibel reagieren zu können.

Bachlauf mit Quelle

Vorkehrungen zur Bewältigung der Pflege eines muskelkranken Kindes?

Auszeiten
Wichtig sind Auszeiten – ein Urlaub, ein Wochenende, ein Abend allein oder zu zweit, ein Treffen mit anderen Betroffenen. Solche Auszeiten werden oft als „Seelenbalsam“ und gar als „heiliger Abend“ bezeichnet! Die Verwendung dieser Metaphern zeigt, wie wichtig solche Auszeiten sind, um vom Pflegealltag abschalten zu können.
Damit Auszeiten möglich werden, muss familiale oder Unterstützung aus dem Bekannten- oder Freundeskreis eingefordert oder ein professioneller Pflegedienst beauftragt werden. Dem steht leider oft die fehlende Kultur des „Sich-Helfen-Lassens“ entgegen. Eine wichtige Strategie mit Blick auf den Erhalt der eigenen Gesundheit und Pflegefähigkeit liegt daher im Aufbau eines verlässlichen und vertrauenswürdigen Betreuungspools aus Familie, Freunden und professionellen Dienstleistern.

Andere machen Dinge anders
Pflegebedürftige, aber auch Pflegepersonen müssen akzeptieren, dass Helfer Verrichtungen auf eine andere Art machen. Der Wunsch nach gleichbleibender und verlässlicher Pflege ist nachvollziehbar, aber die dadurch entstehende Dauer- und Überbelastung der Pflegepersonen ist nicht hinnehmbar. Die Erkenntnis, auch ohne Eltern eine Pflegesituation zu „überleben“, ist für viele Jugendliche eine wichtige Erfahrung auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben und für die pflegenden Eltern eine wesentliche Entlastung! Natürlich soll sich die zu pflegende Person bei der Pflege durch andere wohl fühlen. Erst dann kann die Pflegeperson ihre Auszeit genießen.

Der Fokus der Pflege
Zu Beginn einer Pflegesituation liegt der Fokus hauptsächlich auf der zu pflegenden Person. Im Laufe der Zeit richtet er sich mehr auf die Pflegeperson, deren Bedürfnisse stärker in den Vordergrund treten. Individuelle Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit der Pflegeperson werden immer wichtiger!

Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick behalten

Alle Familienmitglieder haben Bedürfnisse, nicht nur pflegebedürftige Kinder. Auch Partner, Geschwisterkinder und andere Familienangehörige, wie zum Beispiel mitlebende Großeltern, brauchen Aufmerksamkeit! Der Bewältigung besonderer Lebenssituationen sowie dem frühzeitigen Erkennen von Überlastungen, Krisensituationen oder familialen Konflikten, sollte mit Maßnahmen zur Stressreduktion und Resilienzförderung entgegengetreten werden. Hier benötigen Familien oft Sensibilisierung und ermutigende Hilfe von außen.

Berufstätigkeit der Pflegeperson
Berufstätigkeit bietet neben dem finanziellen Hinzuverdienst auch soziale Kontakte und verhindert ein soziales Abseits. Nicht wenige Familien werden im Laufe der Zeit zu Sozialhilfeempfängern, wenn ein Elternteil wegen der Pflege des Kindes die Berufstätigkeit aufgeben muss. Mit den finanziellen Sorgen steigt natürlich auch der psychische Druck. Aber nicht jede Familie kann die Berufstätigkeit der Pflegeperson mit deren Aufgaben in Familie und Pflege vereinbaren.

Wert der Pflegetätigkeit
Pflegende im häuslichen Umfeld erbringen eine hohe volkswirtschaftliche Leistung, ohne dafür eine materielle Entlohnung zu erhalten. Leistungen der Pflegeversicherung sollten die besonderen Situationen dieser Familien berücksichtigen!

Koffer

Der Ressourcen-Koffer

Packen Sie sich einen Ressourcenkoffer: eine Kiste, ein Glasbehälter, ein Karton, ein Ordner im PC oder ein Fach im Schrank und bewahren Sie dort Dinge auf, die Sie mit positiven, Ihnen wichtigen Erinnerungen verknüpfen, eine Karte, ein Stein, ein Brief, eine Eintrittskarte, was immer für Sie wichtig ist! Holen Sie diese Erinnerungen regelmäßig oder bei Bedarf hervor und spüren Sie der Erinnerung nach!

Stellen Sie sich immer wieder folgende Fragen:

  • Was hilft mir, Sinn in meinem Leben zu sehen?
  • Was erlebe ich als positiv in meinem Tagesablauf?
  • Welche Stärken habe ich?
  • Welche Menschen tun mir gut?
  • Welche Möglichkeiten oder Lösungen haben mich weitergebracht?

Fazit

Wer in bestimmten Lebensbereichen unter Druck steht, sollte umso mehr für das Gleichgewicht in anderen Bereichen sorgen. Es ist wichtig, immer wieder wahrzunehmen, was heil geblieben ist, damit das Leben in einem ruhigeren Fluss verlaufen kann.

Werden Sie sich Ihrer Kraftquellen (Ressourcen) bewusst und nutzen Sie diese! Seien Sie mit Ihrer Umgebung im Einklang (erzeugen Sie Kohärenz)! Resilienz zu stärken ist nicht kompliziert, erfordert aber viel Arbeit. Bleiben Sie in Ihrer Lebensgestaltung elastisch (Resilienz)!

ruhig fließender Fluss

Literatur

Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsch von Alexa Franke. Tübingen

Büker, Christa: Gesundheitsbezogene Lebensqualität von Müttern mit einem pflegebedürftigen Kind
www.fh-bielefeld.de © Fachhochschule Bielefeld 2019, ISSN 1433-4461, auch als Download

BZgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – Salutogenese: https://leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/salutogenese