02.05.2022

Mehr Teilhabe durch Physiotherapie

DGM-Newsletter 02/2022

Ich bin Barbara Andres und seit knapp zehn Jahren im Universitätsklinikum Essen im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) als Physiotherapeutin beschäftigt. Insgesamt arbeite ich seit mehr als 25 Jahren mit neuromuskulär erkrankten Patienten. Das SPZ Essen ist spezialisiert auf neuromuskuläre Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen, welches die Familien im Zuge von regelmäßig stattfindenden Vorstellungen interdisziplinär betreut.

Wir führen in unserem Studienteam im SPZ des Universitätsklinikums Essen eine große Anzahl von klinischen Studien durch, die zur Erforschung neuromuskulärer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen dienen und eventuelle neue Therapieoptionen zu etablieren helfen. Entscheidende medizinische Fortschritte gab es in den letzten Jahren bei der Erforschung der spinalen Muskelatrophie (SMA). Aber auch bei anderen neuromuskulären Erkrankungen, wie der Muskeldystrophie Typ Duchenne, erhofft man sich in den nächsten Jahren Durchbrüche zu erreichen. Ich arbeite als Physiotherapeutin überaus gerne mit in unserem Studienteam und führe viele unterschiedliche Funktionstests durch im Rahmen der klinischen Studien, die letztlich die Wirksamkeit, Verträglichkeit oder Dosierung eines zu erforschenden Medikamentes belegen sollen. Diese Arbeit ist sehr spannend und die Entwicklungen teilweise rasant.

In unserem therapeutischen Team im SPZ arbeiten zwei weitere Physiotherapeutinnen und inzwischen drei Psychologinnen. Da wir ein universitäres, hochspezialisiertes SPZ sind, kommen die Patienten in der Regel halbjährlich oder jährlich, auch aus großen Distanzen in unser Zentrum.

Wir Therapeuten sind aus diesem Grund rein diagnostisch und beratend tätig. In der Physiotherapie bei uns im SPZ liegen die Arbeitsschwerpunkte in der Entwicklungsdiagnostik mittels verschiedener motorischer Testverfahren, zudem sind Fragestellungen zu Hilfsmittelversorgungen ein wesentlicher Schwerpunkt. Hierbei begleiten wir die Familien durch den kompletten Prozess der Versorgung, von der Bedarfsermittlung, der Erstberatung, über die Erprobung und die Ausstellung von Hilfsmittelempfehlungen. Wir begleiten den Prozess der Bewilligung durch den Kostenträger und schauen natürlich am Ende auch darauf, ob Hilfsmittel entsprechend ausgestattet und gut eingestellt sind, so dass eine optimale Versorgung gewährleistet ist. Wir kennen und beraten unsere Patienten und Familien häufig über viele Jahre und schaffen somit Kontinuität und Verlässlichkeit in der Versorgung. Wir sind auch viel in Kontakt mit niedergelassenen Therapeuten in Praxen oder Förderschulen und stimmen uns gerne zu Fragen der therapeutischen Förderung und zur Hilfsmittelversorgung ab.

Natürlich haben sich die physiotherapeutischen Behandlungskonzepte auch durch zum Beispiel die drei neuen medikamentösen Therapieoptionen bei SMA verändert, wodurch es zu veränderten Ausprägungen der Grunderkrankung kommt. Bei symptomatischen Verläufen tauchen neue Fragestellungen zu Hilfsmittelversorgungen auf. Physiotherapie beschäftigt sich hier viel mit Kraft- und Ausdauerthemen, orthopädische Fragestellungen und Versorgungen von Schienen, Orthesen und Korsetts rücken in den Mittelpunkt. Die Themen können sehr vielfältig sein. Ein großes Thema ist die Stabilität des Rumpfes, wobei der Blickwinkel dort engmaschig auf eine mögliche Skolioseentwicklung gerichtet wird. In Einzelfällen beobachten wir, dass bestimmte Therapieoptionen, wie zum Beispiel ein strukturiertes Galileotraining geeignet sind, einer Skolioseentwicklung entgegenzuwirken. Hier fehlen jedoch zurzeit noch Erhebungen mit einer größeren Probandenzahl, um wissenschaftlich fundierte Aussagen treffen zu können. Weitere wichtige Themen sind die Entwicklung von Kontrakturen, fehlende Überdachung der Hüftgelenke und die Gefahr von Subluxationen.

Paradigmenwechsel durch ICF

Das Wichtigste in unserer SPZ Arbeit ist der in den letzten Jahren stattgefundene Paradigmenwechsel, initiiert durch die deutschlandweit durchgeführte PartChild-Studie, welche zu einem Umdenken geführt hat.

Im Zentrum steht die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health), die in alle Bereiche unserer Arbeit Einzug gehalten hat. Die ICF ist eine Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation, in der „Funktionale Gesundheit” kodiert ist und zwar in den Komponenten Funktion, Struktur, Aktivität und Teilhabe. In der Version ICF-CY für Kinder und Jugendliche werden besonders deren Bedarfe und die Kindesentwicklung kodiert. Was den Paradigmenwechsel ausmacht ist, dass die ICF sowohl defizit- als auch ressourcenorientiert ist, anders als der Diagnoseschlüssel der ICD 10 (International Statistical Classification of Diseases), der lediglich auf das Krankheitsgeschehen schaut und dabei die Ressourcen außer Acht lässt. Wir möchten die ICD 10 keinesfalls zur Seite legen, sie ist nach wie vor wichtig, um Diagnosen klar zu benennen. Wir möchten die ICF ergänzend hinzunehmen, da sie die Möglichkeit bietet, die Familie mit den betroffenen Kindern mit ihren Fähigkeiten und Wünschen, aber auch den Schwierigkeiten in den Blick zu nehmen und dabei das Lebensumfeld mit zu berücksichtigen.

Ich hatte das große Glück, in der groß angelegten PartChild-Studie als Referentin mitzuwirken, dadurch ist die ICF für mich eine Herzensangelegenheit geworden und auch eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Familien. Mein Vorgehen in den SPZ-Vorstellungen hat sich dadurch grundlegend geändert. Auch früher hatte ich schon die Teilhabe des Patienten in seinem direkten Lebensumfeld alleine durch die Hilfsmittelversorgung im Blick. Ich schaue nicht aus meiner Physio-Brille auf das Kind oder den Jugendlichen und sehe Struktur- oder Funktionsdefizite, sondern meine erste Frage ist, mit welchen Themen das Kind, der Jugendliche oder auch die Eltern heute zu mir kommen. Ist eine Familie neu bei uns, dann habe ich alle wichtigen Lebensbereiche, die in der ICF aufgeführt sind, im Hinterkopf und frage kurz ab, in welchen Bereichen das Kind gut zurechtkommt und wo es eventuell Schwierigkeiten gibt. Kristallisiert sich durch das Kind oder die Eltern eine besondere Fragestellung oder Schwierigkeit heraus, so schauen wir uns dies gemeinsam mit allen relevanten Aspekten an. Dabei liegt die Gewichtung auf der Teilhabe des Kindes. Das bedeutet, es wird ein sogenannter Teilhabestatus erhoben: Wo steht das Kind? Kann es das tun, was es möchte? Wo gibt es Schwierigkeiten in der Umsetzung der Teilhabe? Wenn wir um den aktuellen Teilhabestatus wissen, entwickeln wir die Teilhabepräferenz. Das bedeutet, wir schauen darauf, welche Wünsche das Kind oder die Eltern, bezogen auf eine verbesserte Partizipation haben. Das ist die Grundlage um gemeinsam ein Teilhabeziel zu erheben. Bei der Umsetzung geben wir Anregungen und Vorschläge, wie aus unserer Sicht die Teilhabeziele erreicht werden können. Letztlich entscheidet jedoch die Familie, wie die Umsetzung am besten in ihren Lebensalltag passt. Somit erreichen wir eine höhere Motivation, Verantwortung und Eigenaktivität auf Seiten der Familie. Mit dieser Vorgehensweise werden konkrete Veränderungen im Alltag benannt, die die Augen der Kinder wesentlich eher leuchten lassen, als die Benennung von Funktions- und Strukturzielen.

Für die Umsetzung ist es wichtig, dass wir in unserem interdisziplinären Ziel mit unseren ärztlichen und psychologischen Kollegen an einem Strang ziehen. Natürlich steht in einem universitären SPZ wie dem unsrigen häufig die medizinische Diagnostik, Behandlung und Beratung im Vordergrund. Dies widerspricht jedoch nicht einem Arbeiten mit der ICF, denn auch bei medizinischen Fragestellungen und Abwägungen mit der Familie werden deren Anliegen gehört und möglichst berücksichtigt. Die ICF ist somit ein ganz wichtiges Instrument um die Anliegen der Familien, besonders der Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen und auf Augenhöhe zu beraten, um eine größere Partizipation zu erreichen.

Dieses Umdenken führt manchmal zu Irritationen bei den Familien. Auf die Frage: „Mit welchem Thema kommen sie heute zu mir?“ höre ich derweil als Antwort: „Ja, wir haben heute einen Termin hier in der Physiotherapie.“ Dann hilft konkretes Fragen zu den wichtigen Lebensbereichen des Kindes. Das heißt nicht nur wir Fachkräfte im SPZ müssen umdenken, sondern auch die Familien. Sie kommen in eine aktivere Rolle und agieren selbstbestimmt. Das will auch gelernt sein, wir müssen uns Zeit geben zum Umdenken. Soviel zum Thema ICF, wie gesagt eine Herzensangelegenheit für mich.

Langzeitmotivation und Therapiepausen

Die Motivation für Langzeittherapie hängt davon ab, ob das Kind und die Eltern konkret vor Augen haben, mit welchen Maßnahmen mehr Teilhabe möglich ist. Das bedeutet, physiotherapeutische Maßnahmen finden dann häufig schon auf Funktion- und Strukturebene statt, aber letztendlich ist das Teilhabeziel klar, womit die Motivation höher ist, daran zu arbeiten und eventuell auch Hausaufgabenprogramme in den Alltag zu integrieren. Natürlich ist auch die Abwechslung gefragt. Wir Therapeuten bieten kindgerechte Übungen an, die spielerisch und abwechslungsreich sind. Wichtig ist auch, was die Familie an Umfang und Häufigkeit leisten kann und will. Es muss ganz genau hingeschaut werden, welche Therapie für die Erreichung welchen Ziels notwendig ist und auch Erfolgsaussichten hat. Manchmal ergibt sich daraus, dass bestimmte Therapien ausgesetzt werden können, nicht notwendig sind oder auch Therapiepausen Sinn machen. Wenn Kinder therapiemüde sind, hat die Therapie oft auch keinen Erfolg.

Manchmal sind Kindersportgruppen, Schwimmen, Reiten oder andere Bewegungsangebote eine geeignete Möglichkeit zur Ergänzung der Therapien oder auch um in Therapiepausen motorische Angebote zu ermöglichen. Alles, was Kinder und Jugendliche mit Gleichaltrigen machen, bringt in der Regel mehr an Spaß und Motivation und erhöht dadurch auch den Effekt. Wichtig ist es, darauf zu achten, welche Bewegungsangebote und Trainings eventuell auch schädlich sind. Gerade bei Muskelerkrankungen sollten die Familien Rücksprache halten, damit nicht falsche Trainingsreize, wie zum Beispiel zu hohe Gewichte oder zu hohe persönliche Anstrengung, gesetzt werden, die dann letztlich Schaden anrichten.

Physiotherapeutische Anwendungen zu Hause

Wenn die Therapieziele erhoben wurden und die therapeutischen Maßnahmen für alle Beteiligten transparent sind, halte ich es für sehr wichtig, dass Eltern wissen, woran ihr Kind derzeit in der Therapie arbeitet, damit dies auch in den häuslichen Alltag einfließt. Ich nenne manchmal ein Beispiel aus meinem eigenen Alltag. Ich selber bin Ausdauersportlerin, Läuferin, hin und wieder laufe ich sogar mal einen Halbmarathon oder Marathon. Wenn ich nur einmal in der Woche trainieren würde, würde ich das nicht schaffen. Das bedeutet, wenn man an einem motorischen Thema arbeitet, benötigt unser Körper Reize, um sich zu verändern. Das meint, wenn ich einmal in der Woche in der Physiotherapie einen Reiz setze, verändert sich kaum etwas. Hierzu gibt es ausreichend sportwissenschaftliche Erkenntnisse. Also umso besser, wenn auch zu Hause noch zusätzlich ein Programm in den Alltag integriert wird. Hier ist die Fantasie der Familie und besonders auch des Therapeuten gefragt, dies möglichst gut im Alltag der Familie zu integrieren. Dehnen ist ein häufiges Thema. Manche Kinder können Eigenübungen ohne die Eltern durchführen, zum Beispiel beim Zähneputzen oder Fernsehschauen. Auch hier gilt der Grundsatz, transparent erklären und keinen Druck auszuüben und genau hinschauen, welches Übungsprogramm in den täglichen Alltagsablauf integriert werden kann.

Barbara Andres
Mitglied des DGM-Arbeitskreises Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie