27.11.2023

Auszug aus dem Elternhaus: Maximale Unabhängigkeit und Privatsphäre

Interview mit Michel Günther zum Thema selbständig Wohnen.

Michael Günther

Hallo, möchten Sie sich den Lesern in ein paar Sätzen vorstellen?

Hallo, ich bin Michel Günther aus Leipzig, 34 Jahre alt, seit vielen Jahren in der DGM aktiv, erst als Kontaktperson und Stammtischleiter in Leipzig, zwischenzeitlich einige Jahre in der JungeDGM, und ein paar Jahre war ich im Landesvorstand von Sachsen vertreten. Erst kürzlich habe ich mich von meinen DGM Aufgaben zurückgezogen, da ich gerade mit elf weiteren Menschen ein Hausprojekt zum gemeinschaftlichen Wohnen realisieren möchte und dies für die nächsten Jahre viel meiner zeitlichen Ressourcen binden wird. Ich hoffe, dass ich in ferner Zukunft wieder aktiver in unserem wichtigen Selbsthilfeverband tätig sein kann.

Beruflich berate ich in einer EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) zu gesellschaftlicher Teilhabe und Inklusion und gebe Informationen zu Teilhabeleistungen. Dabei beschäftigen wir uns schwerpunktmäßig mit unsichtbaren Behinderungen und Barrieren.

Wie viele Beratungsgespräche haben Sie zum selbständigen Wohnen pro Jahr?

In unserem Verein fanden im letzten Jahr 67 Gespräche mit Ratsuchenden und deren Netzwerk statt, wo das Thema Wohnen eine Rolle gespielt hat.

Welche Themenbereiche gehören zu einer Beratung zum selbständigen Wohnen?

Eine Beratung zum selbständigen Wohnen umfasst eine Vielzahl von Themenbereichen. Dazu gehört unter anderem die Wohnraumsuche.

Wie findet man eine geeignete Wohnung oder ein passendes Zuhause? Wie gelingt die Finanzierung des Wohnraums und welche Möglichkeiten zur finanziellen Unterstützung gibt es. Welche Unterstützung wird eventuell benötigt, sei es durch Pflege, Betreuung oder Assistenz? Und das Thema Barrierefreiheit: Ist die Wohnung oder das gewählte Zuhause barrierefrei und den individuellen Bedürfnissen angepasst?

Was sind die besonderen Herausforderungen, wenn man als junger Erwachsener mit körperlichen Einschränkungen eigenständig leben möchte?

Menschen mit körperlichen Einschränkungen müssen die Sicherstellung der Barrierefreiheit in der Wohnung, die eventuelle Organisation von persönlicher Assistenz und die damit verbundenen Antrags- und Bewilligungsprozesse im Blick behalten. Nach meiner Erfahrung ist die größte Herausforderung, die passende Wohnung zu finden und dies zeitlich mit den erforderlichen Unterstützungsleistungen abzustimmen. Das Angebot an barrierefreiem, bezahlbarem Wohnraum mit mehr als zwei Zimmern ist sehr begrenzt. Als Teilhabeberatung können wir da immer gerne etwas unterstützen, es gibt circa 500 dieser Angebote in Deutschland.

Welche Wohnformen werden nach Ihrem Eindruck nach am häufigsten gewählt?

Uns begegnen in der Mehrheit Menschen, die in der Regel eigene Wohnungen anmieten und hierfür Leistungen der Eingliederungshilfe beantragen, es gibt auch noch Wohngemeinschaften, ambulant betreutes Wohnen, besondere stationäre Wohnformen und inklusive Wohngemeinschaften.

Wir versuchen vorrangig, den Menschen Perspektiven aufzuzeigen, die der UN-Behindertenrechtskonvention entsprechen und Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung zu ermöglichen

Was sind die Vor- und Nachteile verschiedener Wohnmodelle?

Eine eigene Wohnung, in welcher Ausgestaltung auch immer, bietet zahlreiche Vorteile: Hier genießt man maximale Unabhängigkeit und Privatsphäre. Die Wohnung und die Unterstützungsleistungen können ganz individuell nach Bedarf gestaltet werden. Dies erfordert aber etwas Eigenverantwortung und es braucht ein bisschen eine Vorstellung, wie man gern leben möchte.

Betreute Wohnformen bieten Unterstützung und Betreuung, was Sicherheit und eventuell schnelleren Zugriff auf Hilfe bedeutet. Barrierefreie Einrichtungen sind oft Standard. Der Nachteil kann jedoch der mögliche Verlust von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sein, wodurch wir dies eher selten empfehlen.

Brauche ich ein größeres Vermögen für einen Auszug aus dem Elternhaus?

Nein, als Mensch mit Behinderung stehen einem zahlreiche Unterstützungsleistungen zu, um die Behinderung auszugleichen und finanzielle Belastungen zu mildern. Lassen Sie sich am besten gemeinsam mit Ihren Eltern von einer EUTB über die Möglichkeiten beraten.

Womit sollte eine Umzugsplanung gestartet werden? Welche Zeitspannen sollten nach ihrer Erfahrung nach eingeplant werden?

Als erstes würde ich empfehlen, sich Gedanken zu machen, wie idealerweise ein Wohnen ohne das Elternhaus aussehen könnte. Was bräuchte es an Unterstützung dafür? Es ist ratsam, mehrere Monate für den Umzug einzuplanen, um ausreichend Zeit für die Vorbereitung und die Beantragung von erforderlichen Unterstützungsleistungen zu haben. Eine enge Abstimmung mit den potenziellen Kostenträgern ist hier ratsam.

Was möchten Sie zum Abschluss Eltern oder auch jungen Leuten sagen?

Suchen und sprechen Sie mit Menschen, die vor einem ähnlich großen neuen Lebensabschnitt gestanden haben und dies meisterten. Es ist normal, besorgt zu sein, aber es ist auch entscheidend, die Möglichkeit zu haben, Verantwortung zu übernehmen und aus den Erfahrungen zu lernen.

 

Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB)

Die bundesweiten EUTB-Stellen unterstützen Sie bei Fragen zur Teilhabe, Assistenz, Finanzierung und beim Erstellen eines Teilhabeplans. Sie beraten zudem zu Ihrer Bedarfsaufstellung und Ihrem Antrag im Einzelfall. Dabei steht die Stärkung von Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung im Vordergrund und somit ist die Inklusion ein wichtiger Bestandteil in der Arbeit einer EUTB. Beraten lassen können sich Menschen mit und ohne Behinderung und deren Angehörige mit ihrem direkten Anliegen kostenlos und barrierefrei. Die EUTB bilden, wie der Name bereits sagt, ein ergänzendes unabhängiges Angebot, sodass individuelle Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt werden können um eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Das „Peer Counseling“ als Beratungsmethode bildet den Kern einer Beratung, das bedeutet Betroffene beraten Betroffene. www.teilhabeberatung.de