28.11.2023

Auszug aus dem Elternhaus: All das soll Mut machen

Interview mit Andrea Schumann und Rainer Schell zum Auszug ihres Sohnes aus dem Elternhaus.

Hallo, möchten Sie sich den Lesern in ein paar Sätzen vorstellen?

Andrea Schumann (bis 2018 Leiterin einer Drogenberatungsstelle, inzwischen Rentnerin) und Rainer Schell (Lehrkraft an einer inklusiven Gesamtschule, inzwischen Rentner und ehrenamtlich in der Leseförderung und bei Deutschkursen für Asylsuchende tätig). Unser Sohn ist 35 Jahre.

Wohnt Ihr Sohn weit von Ihnen entfernt?

Er wohnt wie wir in Frankfurt in der Nähe der Innenstadt in einer barrierefreien Wohnung. Mit der Bahn sind es etwa 20 Minuten Entfernung.

Wann ist der Wunsch bei Ihrem Sohn entstanden, von Zuhause auszuziehen?

Nach dem Abitur 2008 hat unser Sohn begonnen, in der Nähe von Darmstadt Digital Media Sound zu studieren und zwei barrierefreie Zimmer für sich und seine Betreuer in mehreren Frankfurter Studentenheimen gesucht. Im neu gebauten Studentenheim hat er 2009 zwei barrierefreie Zimmer in einer WG bekommen und ist ausgezogen. Dort hat er erst den Bachelor in Digital Media/Sound bestanden und bis zum Abschluss eines Zweitstudiums in dem Fach Theater, Film und Medien an der Uni Frankfurt mit Bachelor und Master gewohnt. Im Sommer 2018 ist er umgezogen in seine jetzige Wohnung im Holzhausenviertel in Frankfurt.

Welche Wohnform hat er gewählt? Lebt Ihr Sohn mit persönlicher Assistenz?

Unser Sohn lebt seit seinem Auszug bei uns mit persönlicher Assistenz und war zuerst im Studentenheim und anschließend in einer barrierefreien 2-Zimmerwohnung mit zwei Balkonen, Küche und Bad.

Wie hat Ihr Sohn die Wohnung gefunden? Wurde die Wohnung angepasst?

Er hat die Wohnung vom Wohnungsamt vermittelt bekommen. Die Wohnung war barrierefrei.

Wie ging es Ihnen als Eltern mit den Auszugplänen Ihres Sohnes? Hatten Sie vielleicht Bedenken?

Wir haben ihn sehr unterstützt. Aber natürlich war es auch mit Ängsten verbunden, ob alles gut geht, ob er nicht isoliert lebt und genug Kontakt mit Altersgenossen findet und seine alten Freunde behalten kann.

Wir war es dann, als Ihr Sohn ausgezogen ist?

Unsere Wohnung erschien uns leer und es fehlte uns der Austausch mit jungen Leuten, die häufig bei ihm zu Besuch waren und auch schon als Integrationshelfer bei uns gearbeitet haben.

Was möchten Sie zum Abschluss anderen Eltern oder auch jungen Leuten sagen?

Wir haben sehr gute Erfahrungen gemacht. Unser Sohn ist sehr selbstständig, er organisiert alles selbst, trotz der knappen Betreuersituation und dem dauernden Fortschreiten der Krankheit, die seine Fähigkeiten immer wieder aufs Neue einschränkt. Er hat jedes Jahr eine Reise gemacht, außer in den zwei Corona-Jahren. Zuletzt war er diesen Sommer mit Betreuern eine Woche in Wien. Nach dem Abitur hat er immer mit Betreuern, die Niederlande, Kroatien, Teneriffa, Jamaika, Marseille, Portugal, Kreta, Barcelona, Valencia, Palermo und den Bodensee in Österreich besucht.

Er ist sehr kreativ, was seine Hilfsmittel betrifft. Zum Beispiel hat er mit Hilfe einer Firma, die Sondersteuerungen für Rollstühle verkauft, Ideen zu einer Zungensteuerung entwickelt, die diese Firma dann gebaut hat, sodass er trotz des Verlustes der Kraft in den Händen weiterhin Elektrorollstuhl fahren kann.

Er arbeitet freiberuflich beim ZDF als Lektor für Filmdrehbücher. Zudem ist er ehrenamtlich aktiv im Team des Lichter-Filmfestivals in Frankfurt und gehört zur Auswahljury beim Festival. Er bestückt etwa alle vier Wochen eine Radiosendung bei Radio X mit Hip-Hop und Soulmusik.

2014 wurde im Rahmen der 37 Grad Sendereihe im ZDF ein Film über ihn gedreht, nachdem er ein Buch über sich im Selbstverlag geschrieben hatte. Der Film mit dem Titel „Wirklich beste Freunde“ ist zu sehen auf YouTube genauso wie der Film „Guck mal, was er schon alles kann“.

All das soll Mut machen, damit auch andere Eltern ihre Kinder je nach Begabung unterstützen, ein selbstbestimmtes, selbstständiges eigenes Leben zu führen. Auch die Jugendlichen möchten wir mit diesen Zeilen ermutigen, das Experiment der Selbstständigkeit zu wagen.