29.05.2022

2. Fachsymposium der Diagnosegruppe CMT/HMSN in Hohenroda

Hohenroda, 27. bis 29. Mai 2022. Die erst 2020 gegründete Diagnosegruppe CMT/HMSN lud am 27. Mai 2022 bereits zu ihrem zweiten Fachsymposium in Präsenz ein. Immerhin rund ein Zehntel der 700  DGM-Mitglieder mit der Diagnose CMT/HMSN folgten dem Aufruf des Vorstandes und kamen aus allen Provinzen in die Mitte Deutschlands auf die anmutige Kuppenrhön. Auch diesmal traf man sich wieder im bewährten Hotelpark Hohenroda, das Wetter und das Essen waren abwechslungsreich, die Atmosphäre angeregt und freundschaftlich. Was will man mehr? Nun – vor allem Austausch und „Input“.

Damit ging es diesmal schon am frühen Nachmittag los. Der erste Vorsitzende und Gründer der CMT-Diagnosegruppe Professor Ingolf Pernice ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Franz Sagerer, dem Delegierten Dr. Jörg Hartwig Bank sowie der stellvertretenden Delegierten Petra Hatzinger, die Teilnehmer freudig zu begrüßen, und das Programm vorzustellen, das unter dem anspruchsvollen Motto stand: „CMT in Theorie und Praxis: Anleitung zur Selbsthilfe“.

Bereits der erste Vortrag ging in die Tiefe. Prof. Dr. Jürgen Forst (Klinik für Orthopädie, Universitätsklinikum Frankfurt) sprach über die Grenzen konservativer und die Möglichkeiten operativer Therapien, also Weichteil- und Knocheneingriffe bei CMT-Deformitäten der unteren Extremitäten. Die wichtigsten Verfahren wurden erläutert, wobei ein Schwerpunkt die von Professor Forst  geschätzte „Imhäuser-Osteotomie“ bildete. Die anschließende Diskussion war lebhaft und intensiv, zumal unter den Zuhörern viele schon einschlägige Erfahrungen mit unterschiedlichsten Fuß-OPs hatten. Dem Berichterstatter zum Beispiel wurde während des Vortrags deutlich, im Laufe seines Lebens schon fast alle Verfahren an den eigenen Füssen erfahren zu haben – letztlich mit guten Ergebnissen. Für den Patienten ist es kein leichter Weg - nach der zwingend notwendigen diagnostischen Abklärung - den  richtigen Chirurgen zu finden. 2/3 der Hohlfüße beruhen auf einer neurologischen Grunderkrankung, die bei etwa der Hälfte CMT heißt. Auch wenn die CMT-Krankheit zu den seltenen Krankheiten gezählt wird, bleibt der Bedarf an CMT-Fußoperationen größer als das Angebot. In Frankfurt jedenfalls, so erschien es dem Berichterstatter zwischen den Zeilen, steht Professor Forst als CMT-Spezialist einsam auf weiter Flur, nicht eben großzügig organisatorisch und personell unterstützt durch die Klinikverwaltung. Die Patienten jedenfalls müssen sich auf Wartezeiten einrichten.

Am späteren Nachmittag stellte sich die Arbeitsgruppe „JungeDGM“ in Gestalt ihrer Sprecherin Frau Katharina Kohnen der CMT-Gemeinde vor und konnte die Sympathien der anderen Tagungsmitglieder schnell für sich gewinnen. Für Katharina Kohnen hat Selbsthilfe schon früh angefangen, als kleines Kind ist sie mit ihren Eltern zu Eltern-Kind-Gruppen gegangen und hat dort für sich viele Vorbilder gefunden. Besonders wichtig für sie war schon immer der Austausch mit anderen und zu sehen, dass es selbstbestimmte Lebensweisen gibt. Katharina Kohnen will andere junge Menschen dazu ermutigen, in der Selbsthilfe aktiv zu werden und sagt: „Man darf nicht gleich aufgeben“. Die Schwerpunkte der „JungDGM“  sind notwendigerweise andere als in einer Diagnosegruppe, z. B. werden hier unterschiedliche digitale Medien selbstverständlicher und intensiver als in „herkömmlichen“ Gruppen genutzt.

Der Samstagvormittag begann mit dem Vortrag von Dr. Carsten Schröter, dem Chefarzt der Neurologischen Abteilung der Reha-Klinik Hoher Meißner (Bad Sooden-Allendorf), der zunächst eine Übersicht der symptomatischen Vielfalt der vielgesichtigen und vielschichtigen CMT-Erkrankungen lieferte, um dann einen umfassenden Überblick über spezifische Rehabilitation, Physiotherapie und andere Anwendungen  zu gewähren. Die angeführten Forschungsberichte zeigen, dass Reha-Maßnahmen durchaus signifikante Verbesserungen bewirken. Dr. Schröter betonte die medizinische Notwendigkeit von körperlicher Bewegung auch und gerade unter den erschwerten Bedingungen schwindender Muskeln, führte aber eine Reihe neuer Publikationen an, welche die negative Auswirkungen eines forcierten muskulären Trainings nachweisen. Es gelte, wie immer im Leben, das richtige Maß zu finden. Hilfreich und informativ waren seine Erläuterungen zu Sensibilitätsstörungen, Schmerzen, Fatigue und Ernährung. In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere der Hinweis auf die Problematik der psychischen Belastungen infolge der Nervenatrophie und die entsprechende Notwendigkeit interdisziplinärer Behandlungsansätze aufgegriffen.

Nach der Theorie sollte die Praxis folgen und die Teilnehmer hatten die Wahl zwischen diversen Arbeitsgruppen: Dr. Schröter und  Julian Thorey, Physiotherapeut der Klinik Hoher Meißner, demonstrierten Physiotherapie für CMT-Patienten in der Praxis;  in einem anderen Workshop führte die Leiterin der Ergotherapie der Klinik Hoher Meißner Doris Löhnert vor,  was  Ergotherapie bei CMT bedeutet.   

Spannend, lehrreich und optimistisch war der Vortrag von Frau Dr. med. Helena Pernice über gentherapeutische Perspektiven für CMT- Betroffene. Tatsächlich hat in jüngster Zeit die Forschung für verschiedene Formen der CMT, speziell für den häufigen Typ CMT 1a, konkrete gentherapeutische Ansätze gefunden, die in einigen Jahren auch klinische Bedeutung haben werden. Zumindest für die jüngeren Betroffenen zeichnet sich ein hoffnungsvoller Kurs mit weitreichenden Konsequenzen am Horizont ab.

Nach der anregenden, aber auch anstrengenden Informationsflut des Vormittags nahmen viele Teilnehmer dankbar an einer Entspannungsübung nach dem Mittagessen teil, die der zweite Vorsitzende der Diagnosegruppe Franz Sagerer anleitete.

Am Nachmittag berichtete Gudrun Reeskau von der Geschäftsstelle der DGM in Freiburg über sozialrechtliche Ansprüche CMT-Betroffener und gab praktische Tipps zum richtigen Umgang mit den Versicherern. Immer noch sind ablehnende Bescheide bei Kur- und Hilfsmittelanträgen keine Ausnahme von der Regel, jedoch haben die Antragsteller im Nachgang Erfolg, wenn gutachterlich konkret zu behandelnde Gelenkkontrakturen, das Einüben des Gebrauchs der Hilfsmittel und gegebenenfalls eine psychische Symptomatik  als Behandlungsziele genannt werden können. Der Patient muss zum Anwalt und Experten seiner Sache werden, bedarf aber allzu häufig zusätzlich des Fachanwaltes und des Fachgutachters. Wichtig ist es zum Beispiel, die Fristen zu beachten, in denen Anträge an die zuständigen Kostenträger weitergeleitet und bearbeitet werden müssen. Zahlreiche Beiträge der im doppelten Sinne Betroffenen  erweiterten und vertieften das „bürokratische“ Themenfeld, das von einem Teilnehmer anschaulich als „Minenfeld“ bezeichnet wurde.

Nach der wohlverdienten Kaffeepause setzte man sich in größeren und kleineren Gesprächskreisen zusammen, um sich über spezifische und allgemeine Themen auszutauschen, Leiter waren die Mitglieder des Vorstandes der Diagnosegruppe: Jörg Bank, Petra Hatzinger und Franz Sagerer. Katharina Kohnen bot einen Gesprächskreis für „ junge Leute“ bis 29 Jahren“ an.

Am Sonntagmorgen gab es nach dem Frühstück statt Frühgymnastik und Zirkeltraining einen weiteren Einblick in die Feldenkrais-Therapie, nachdem dieser bereits im letzten Jahr großen Anklang gefunden hatte. Die Trainerin Larissa Baehn aus Hohenroda erläuterte diesen bewegungstherapeutischen Ansatz mit praktischen Übungen, die von den Teilnehmern, zum Teil auf Matten liegend, begeistert absolviert wurden. Es wurde deutlich, dass die Feldenkrais-Therapie, unabhängig vom theoretischen Überbau - qualifizierte Anleitung vorausgesetzt – dazu beitragen kann, die körperliche Beweglichkeit zu verbessern und zumindest Entspannung und Schlaf zu befördern.

Vor dem Abschlussessen ging es wieder in die Halle des Frankfurter Saals. Ingolf Pernice hatte ein Betroffenen-Podium um sich versammelt, um Erfahrungen und Gedanken auszutauschen. Die Ausgangsfrage lautete: „Wie mit der CMT umgehen?“ Ingolf Pernice stellte die Frage in den größeren Zusammenhang mit Lebensalter und Lebenserfahrung. Entsprechend legte die resolute Gunhilt Dragon (Schleswig-Holstein) ironisch wert darauf, nicht als „Seniorin“, sondern lieber als „Señoríssima“ angeredet zu werden. Die beiden anderen Disputanten der illustren Runde waren Katharina Kohnen (Bundesvorstand) und André Metz (Thüringen).  Katharina Kohnen, die nicht an CMT erkrankt ist und etwas jünger als die meisten anderen Teilnehmer, fühlte sich als Beobachterin, die versuche, die „exotischen“ CMTler zu „analysieren“. Im Gegensatz zu den SMA-Erkrankten könnten sich viele CMT-Kranke lange „verstecken“, „schauspielern“ und im gesellschaftlichen Strom „mitschwimmen“. Dieser Energieaufwand sei aber sinnlos, wichtiger müsse es sein, die Krankheit zu einem Teil der eigenen Identität zu machen. Das sei wohl eher der Jugend vorbehalten. André Metz, der bereits vor zwei Jahrzehnten eine Jugendgruppe für Muskelkranke gegründet hat, erwiderte, dass es ihm weniger ums „Verstecken“ gehe, sondern darum, die richtigen Prioritäten zu setzen und die Krankheit als Aufgabe anzunehmen und zu akzeptieren, nach dem Motto: „Mach das Beste daraus“. Die folgende Diskussion auf dem Podium und mit den Zuhörern umkreiste vielfältig das doppelte Problem der Barrieren in der Realität und im eigenen Kopf, zwischen Aktivismus, Anpassung und Resignation.

Am Ende dankte Ingolf Pernice allen Teilnehmern und Gastrednern, den Mit-Organisatoren aus dem Vorstand und der DGM dafür, dass CMT-Ereignis ermöglicht zu haben und würdigte die „DAK-Gesundheit“ als großzügigen Förderer. Vieles bleibt in diesen Zeiten unvorhersehbar, aber das 3. Selbsthilfe-Symposium der Diagnosegruppe CMT/HMSN soll vom 1. bis 3. September 2023 in Hohenroda stattfinden.

Dr. Jörg Bank

Teilnehmer des Symposiums