Neurobiologe Rüegg über LAMA2: „Erkrankung ist glücklicherweise sehr selten“

Seit über 20 Jahren forscht der Schweizer Neurobiologe Professor Markus Rüegg an den Krankheitsmechanismen von kongenitalen Muskeldystrophien. Seit 2022 arbeitet er zusammen mit seinem Team an der Universität Basel an einer Gentherapie für die sogenannte LAMA2-Muskeldystrophie (LAMA2-MD). Warum er sich ausgerechnet für diese Erkrankung entschieden hat und wie weit die Entwicklung einer möglichen Gentherapie inzwischen fortgeschritten ist, erklärt er im Interview mit Juri Wagner und Anna Seeburg.

Herr Rüegg, als Neurobiologe wissen Sie, dass es viele verschiedene genetische Muskelerkrankungen gibt. Warum fokussieren Sie sich bei Ihrer Forschung auf die LAMA2-Muskeldystrophie?
In unserer Forschung haben wir uns vor mehr als 20 Jahren damit beschäftigt, die Bildung der Nerv-Muskelsynapse besser zu verstehen. Dabei entdeckten wir, dass das Protein Agrin ähnliche Eigenschaften hat wie Laminin-α2, das Produkt des Gens, das bei LAMA2-MD mutiert ist. Wir dachten, dass eine kleinere Form von Agrin einige Funktionen des defekten Proteins übernehmen und so die Symptome lindern könnte. Wir testeten diese Hypothese an Mäusen mit LAMA2-MD und stellten Verbesserungen fest, aber die Tiere wurden nicht vollständig geheilt. Ein entscheidender Moment war, als ein Arzt, der Patienten mit LAMA2-MD behandelt, unter dem Mikroskop Biopsien der Muskeln der behandelten Mäuse mit denen der LAMA2-MD-Mäuse verglich. Er war positiv überrascht und bemerkte, dass er noch nie eine so starke Milderung der Symptome nach einer Behandlung gesehen hatte. Diese Rückmeldung hat uns ermutigt, unsere Forschung weiterzuführen und mögliche Therapieansätze für betroffene Patienten zu erkunden. Heute wissen wir, dass es bei einer solch schweren Krankheit praktisch unmöglich ist, die Krankheit wirklich zu heilen.

Muskelquerschnitt
Querschnitt eines Muskels von LAMA2-MD Mäusen: Die Muskelfasern sind grün gegen Laminin-α4 gefärbt. Kleine, neu gebildete Muskelfasern erscheinen rot, während die Zellkerne blau gefärbt sind.

Wann treten die Symptome erstmals auf? Gibt es klassische Verläufe bei LAMA2-Patienten oder sind diese sehr unterschiedlich?
Es gibt schwere und leichte Formen der Krankheit, aber bei allen ist das LAMA2-Gen mutiert. Bei der schweren Form wird das Genprodukt Laminin-α2, früher als Merosin bekannt, im Körper nicht gebildet. Bei weniger schweren Formen gibt es entweder viel weniger Laminin-α2 als bei gesunden Personen oder das vorhandene Laminin-α2 funktioniert nicht richtig. Bei der schweren Form sind die Betroffenen, wie der Name kongenitale Muskeldystrophie sagt, schon bei oder kurz nach der Geburt betroffen. Eine starke Muskelschwäche, das Vorhandensein von Muskelenzymen im Blut und eine mittels Kernspintomographie feststellbare Veränderung der weißen Substanz des Gehirns sind zentrale Diagnosekriterien dieser Erkrankung. Die motorischen Fähigkeiten wie Sitzen und Gehen entwickeln sich bei diesen Kindern stark verzögert, die meisten erreichen keine Gehfähigkeit. Eine endgültige Diagnose ist in der Regel nur durch die Identifizierung der Mutationen im LAMA2-Gen mittels DNA-Sequenzierung möglich.

Wie viele Menschen sind von LAMA2 betroffen? Gibt es genaue Zahlen oder eine Dunkelziffer an Betroffenen ohne Diagnose?
Diese Erkrankung ist glücklicherweise sehr selten. Aufgrund der Mutationsraten des LAMA2-Gens schätzt man, dass bei einer Million Geburten etwa acht Kinder betroffen sind. In Deutschland werden also jährlich etwa sechs Kinder mit dieser Krankheit geboren. Möglicherweise gibt es eine Dunkelziffer, da diese Krankheit autosomal rezessiv vererbt wird. Das bedeutet, beide Kopien des LAMA2-Gens müssen mutiert sein. Oft ist es auch heute noch schwierig, aufgrund der Gensequenz sicherzustellen, dass die entdeckte Mutation tatsächlich für die Krankheit verantwortlich ist. Früher wurden auch Muskelbiopsien verwendet. Diese konnten mit Antikörpern gegen Laminin-α2 gefärbt werden; wenn die Färbung fehlte, wussten die Ärzte, dass das Kind an LAMA2-MD leidet. Da die Entnahme von Muskelbiopsien jedoch schmerzhaft ist, wird diese Diagnosemethode heute oft nicht mehr genutzt.

Aktuelle Therapien wie Physiotherapie oder Medikamente helfen nur bedingt gegen die Muskelschwäche der Betroffenen. Woran liegt das?
Das Fehlen von Laminin-α2 vermindert die Fähigkeit der Muskelfasern, während der Kontraktion den entstehenden physikalischen Kräften zu widerstehen. Dazu benötigen die Muskelfasern eine Verbindung zwischen der Extrazellulären Matrix (EZM), einer komplexen Struktur von Proteinen, die jede Muskelfaser umgibt, und dem Zytoskelett, dem Gerüst in der Zelle. Laminin-α2 ist ein wichtiger Bestandteil der EZM, da es für deren Bildung und Stabilität wichtig ist und an Proteine an der Oberfläche der Muskelfasern bindet, die dann mit dem Zytoskelett verbunden sind. Wenn Laminin-α2 fehlt, wird die EZM nicht korrekt ausgebildet und die Verbindung zum Zytoskelett wird unterbrochen. Dadurch werden die Muskelfasern während der Kontraktion geschädigt und sterben ab. LAMA2-MD ist eine progressive Erkrankung. Durch den fortschreitenden Verlust der Muskelfasern wird die Muskelkraft also immer geringer. Heute gibt es leider keine Medikamente, die die Ursache der Krankheit behandeln können. Ärzte können jedoch bestimmte Medikamente verschreiben, um die Symptome etwas zu lindern. Physiotherapie ist wichtig, um den durch Muskelschwäche entstehenden Kontrakturen entgegenzuwirken. Der Grund, dass es keine hochwirksamen Medikamente gibt, ist, dass eine Heilung nur möglich wäre, wenn die Mutationen im LAMA2-Gen korrigiert werden. Diese Möglichkeiten sind aber momentan noch nicht vorhanden. Da im Laufe der Zeit die Muskelfasern abgebaut werden, ist es auch wichtig, dass mögliche Therapien frühzeitig angewandt werden.

Die Genforschung hat in den vergangenen Jahren rasant an Fahrt aufgenommen und beispielsweise die CRISPR-Cas9-Genschere hervorgebracht. Auch Sie haben einen vielversprechenden gentherapeutischen Ansatz für LAMA2 entwickelt. Wie genau funktioniert der?
Im Prinzip stellt die CRISPR-Cas9-Genschere eine Möglichkeit dar, die Mutationen im LAMA2-Gen zu korrigieren. Leider ist diese Methode derzeit noch nicht anwendbar, da sie eine gewisse Fehlerquote hat und Cas9 ein bakterielles Protein ist, das in unserem Körper eine starke Immunantwort auslösen würde. Der Ansatz, den wir entwickelt haben, basiert auf dem detaillierten Verständnis der molekularen Mechanismen, die der LAMA2-MD zugrunde liegen. Laminin-α2 ist dafür verantwortlich, die EZM zu bilden und zu stabilisieren sowie über Proteine der Muskelfasern die EZM mit dem Zytoskelett zu verbinden. Bei LAMA2-MD findet man in der EZM ein anderes, kleineres Protein, das Laminin-α4. Dieses „kompensierende“ Laminin hat jedoch nicht die Fähigkeit, die EZM richtig zu bilden, und es bindet auch nicht an die Proteine, die mit dem Zytoskelett verbunden sind. Wir haben über viele Jahre zwei relativ kleine Proteine entwickelt, die genau diese zwei Funktionen von Laminin-α2 übernehmen können. Linker 1 verbindet Laminin-α4 mit den Proteinen an der Oberfläche der Muskelfasern, und Linker 2 hilft bei der Bildung der EZM. Die Informationen zur Herstellung der beiden Linker bringen wir mittels Gentherapie in die Muskelfasern von LAMA2-MD-Mäusen ein. Für diese Einspeisung nutzen wir kleine, für den Menschen unschädliche Viren. Bei den LAMA2-MD-Mäusen haben wir mit diesen Methoden sehr vielversprechende Ergebnisse erzielt. Das ist auch der Grund, warum wir beschlossen haben, diese mögliche Therapie in klinischen Studien zu testen und die Firma SEAL Therapeutics AG vor zweieinhalb Jahren zu gründen. SEAL steht für Simultaneous Expression of Artificial Linkers und bedeutet auch, dass wir hoffen, mit dieser Methode die Muskelfasern zu versiegeln (Englisch „to seal“, Anm. d. Red.).

Schema
Diese schematische Darstellung zeigt die molekularen Wechselwirkungen, welche die Extrazelluläre Matrix (EZM; hellbraun), die Plasmamembran (PM; braun) und das Zellinnere (ZI; grün) einer Muskelfaser verbinden.

Von der ersten Idee bis zur erfolgreichen Therapie ist es oft ein weiter Weg. Welche Meilensteine sind noch nötig, damit Ihre Methode den Weg zu den Patienten findet?
Praktisch alle Versuche an den LAMA2-MD-Mäusen sind abgeschlossen. Jetzt geht es darum, die für einen klinischen Versuch erforderliche Menge an Viren zu produzieren, die die Informationen für diese Linker tragen. Danach muss getestet werden, ob diese Linker keine toxische Wirkung haben, und es muss ein Plan aufgestellt werden, wie genau die Wirkung einer solchen Therapie bei LAMA2-MD-Patienten gemessen werden soll. Ein Bericht mit all diesen Daten und ein klinischer Plan müssen dann den Zulassungsbehörden vorgelegt werden. Erst wenn diese grünes Licht geben, kann die Therapie klinisch getestet werden.

Wenn es dann soweit ist: Wo können sich Betroffene hinwenden, um an klinischen Studien teilzunehmen?
Betroffene sollten sich am besten bei Patientenorganisationen registrieren lassen. Dort finden sie auch Kontakte zu anderen Betroffenen.