Belastung und Versorgung von Betroffenen mit Amyotropher Lateralsklerose in Deutschland
Erste Daten einer deutschlandweiten Fragebogenerhebung zu Erkrankungskosten der Amyotrophen Lateralsklerose zusammengefasst von Dr. Olivia Schreiber-Katz, von der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Hintergrund
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine seltene Erkrankung (Vorkommen in Deutschland (Prävalenz) in ca. 8 von 100.000 Menschen; 1) und zählt zu den sogenannten Motoneuronerkrankungen. Sie betrifft mehr Männer als Frauen und beginnt überwiegend in der zweiten Lebenshälfte. Zu einem kleineren Anteil (ca. 10%) findet sich eine familiäre Häufung aufgrund einer angeborenen genetischen Ursache. Der ALS zugrunde liegt der Untergang von motorischen Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark (Motoneurone), so dass Skelettmuskeln nicht mehr angesteuert werden. Die ALS ist eine rasch fortschreitende Erkrankung, die innerhalb kurzer Zeit zu einer zunehmenden Muskelschwäche und Muskelschwund führt, häufig resultierend in einem Verlust der Gehfähigkeit, einer Funktionseinschränkung der Arme und der Einschränkung der Selbständigkeit. Weiterhin sind meistens von Beginn an oder im Erkrankungsverlauf sogenannte motorische Hirnnervenkerne im Hirnstamm betroffen, was sich in einer reduzierten Beweglichkeit der Zunge, Sprech- und Schluckstörung zeigt. Kommunikationsunterstützende Hilfsmittel und die Nutzung einer Ernährungssonde können im Erkrankungsverlauf notwendig werden. Auch die Atemmuskulatur wird durch den Ausfall der Motoneurone geschwächt, so dass eine Ateminsuffizienz und der Bedarf einer Atmungsunterstützung entstehen können (2, 3). Die weitreichenden individuellen Einschränkungen durch die ALS, die sich innerhalb weniger Jahre entwickeln, machen deutlich, dass Betroffene, aber auch deren familiäres und soziales Umfeld, einer hohen Belastung ausgesetzt sind. Deshalb benötigen Patienten, aber auch Angehörige, eine multidisziplinäre ärztliche und pflegerische Betreuung, eine gute Versorgung mit Hilfsmitteln und eine Unterstützung in der häuslichen Umgebung sowie bei der Bewältigung des Alltags.
Die ALS führt meistens innerhalb von drei bis fünf Jahren zum Tod und bisher existiert keine ursächliche Behandlung. In Deutschland ist das Präparat Riluzol zugelassen, welches den Erkrankungsverlauf um wenige Monate verlangsamen kann. Zudem ist in den USA und Japan das Präparat Edaravone zugelassen und wird in Deutschland zum Teil „off-label“ (außerhalb der Zulassung) als individueller Therapieversuch angewendet. Auch dieses hat einen ähnlichen Effekt der Krankheitsverlangsamung wie Riluzol (4, 5). Neue (u.a. genetische) Therapien sind derzeit in der klinischen Erprobung. Zur Zulassung neuer, bei seltenen Erkrankungen oft hochpreisiger, Therapien werden neben dem Nachweis der Wirksamkeit auch Kosten-Nutzen-Bewertungen gesetzlich gefordert. Diesen Aspekt hat diese Studie zum Hintergrund: zum einen wird die Belastung und aktuelle Versorgung von ALS Patienten in Deutschland aus unabhängiger Perspektive dargestellt und Defizite in der Versorgung aufgezeigt, andererseits werden Argumentationen für neue (teure) Therapien abgeleitet.
Methoden
Folgend werden erste Teilergebnisse einer deutschlandweiten Studie gezeigt, welche an der Medizinischen Hochschule Hannover im Rahmen einer deutschlandweiten Fragebogenerhebung seit Juli 2018 stattfindet. Bisher wurden in den insgesamt 17 spezialisierten Zentren innerhalb des Motoneuronnetzwerks MND-Net (www.mnd-als.de) 408 Patienten und deren hauptpflegende Angehörige mit ALS und anderen Motoneuronerkankungen eingeschlossen, die einmalig jeweils einen Studienfragebogen ausgefüllt haben. Dieser erfasst neben Symptomen und individuellem Erkrankungsverlauf auch die medizinische und pflegerische Versorgung, berufliche Einschränkung des Patienten und seines hauptpflegenden Angehörigen, die Lebensqualität sowie die Auswirkungen der Pflegesituation auf den Angehörigen. Erste Daten dieser Studie wurden im Juni 2020 veröffentlicht (6) und umfassen, wie auch die folgenden Darstellungen, eine Patientenkohorte von erwachsenen 156 ALS Patienten, welche sich (mindestens einmal) zwischen 04/2016 und 02/2019 an der Medizinischen Hochschule Hannover in Behandlung befanden. Alle Teilnehmer willigten schriftlich zur Studienteilnahme ein. Die Studie wurde vom Ethikkomitee der Medizinischen Hochschule Hannover positiv begutachtet.
Zur Einschätzung der individuellen Symptome und krankheitsbedingten Einschränkung im Alltag wurde die ALS Functional Rating Scale (ALSFRS-R; 7) eingesetzt, die in zwölf Fragen die Bereiche grobe und feine motorische Funktionen (z.B. Gehen, Treppensteigen und Ankleiden), die Atem- (subjektive Luftnot, Notwendigkeit einer Beatmung) sowie die Kommunikations-und Ernährungssituation (Sprechen, Schlucken) bewertet. Anhand dieser Funktionsskala (0 - 48 Punkte, 48 Punkte = beste motorische Funktion ohne Einschränkungen) erfolgte eine Einteilung in Krankheitsschweregrade nach dem sog. King`s Staging (8). Dieses wird bewertet in den Stadien 1 - 5, wobei Stadium 1 einer leichten Erkrankungsausprägung mit Symptomen nur einer Körperregion entspricht (Stadium 2 = zwei Körperregionen, Stadium 3 = drei Körperregionen), Stadium 4A zeigt die Notwendigkeit einer Ernährungssonde an und 4B die einer Atmungsunterstützung. Stadium 5 entspricht dem Tod und ist in unserer Patientenkohorte nicht erfasst. Die individuelle Einschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wurde anhand des gebräuchlichen und für viele Erkrankungen etablierten Fragebogens EQ-5D-5LTM (EuroQol five dimensions five level questionnaire) ermittelt (9).
Ergebnisse
Versorgung von Patienten mit ALS
Die 156 befragten Patienten waren 65 Jahre alt und zu 40% weiblichen Geschlechts. Überwiegend wurde ein Erkrankungsbeginn mit 62 Jahren und eine Krankheitsdauer bei Studienteilnahme von zwei Jahren (alle Angaben Median) beobachtet. Die Verteilung über die Krankheitsstadien war gleichmäßig, so dass der gesamte Erkrankungsverlauf abgebildet werden konnte (Stadium 1 - 4B je 13, 26, 28, 10, 22%). 110 Patienten hatten eine Pflegestufe (davon 90 in Stufe 3 - 5) und 149 gaben an, im Alltag eingeschränkt zu sein. In Abb. 1 wird deutlich, dass der überwiegende Anteil der Patienten mäßig bis schwer in allen Bereichen des täglichen Lebens eingeschränkt war.

61 Patienten (39%) berichteten, ganztätig (24 Stunden) die Anwesenheit einer unterstützenden Person zu benötigen. Die hauptsächlich unterstützenden Angehörigen waren in 117 Fällen die (Ehe-) Partner und in 10 Fällen die eigenen Kinder. 38 gaben an, aufgrund der ALS nicht mehr ihrem Beruf nachgehen zu können, wobei jedoch der Großteil der Patienten aufgrund des hohen Durchschnittsalters bereits altersberentet war.
Die ermittelte Versorgung mit medizinischen und unterstützenden Leistungen ist in Abb. 2 dargestellt. 80% (125) der Patienten in dieser Kohorte waren mit Hilfsmitteln versorgt (im Mittel waren sieben verschiedene Hilfsmittel je Patient nötig), überwiegend Mobilitätshilfsmittel (68%, 106 Patienten). Davon waren 75 auf einen Rollstuhl angewiesen. Am zweit- und dritthäufigsten wurden weiterhin Pflegehilfsmittel (59%, 92) und Kommunikationshilfsmittel (37%, 57) genutzt. 20,5% (32) der Patienten wurden (nicht-)invasiv beatmet und 17,3% (27) nutzten eine Nahrungssonde zur (ergänzenden) Nahrungszufuhr. Fast alle Patienten (96%) wurden mit Heilmitteln behandelt. 83% erhielten regelmäßig Physiotherapie (im Mittel 88x/Jahr), 62% Logopädie mit 48 Behandlungen pro Jahr und 60% Ergotherapie (im Mittel 45x jährlich). 85% hatten in den letzten drei Monaten ambulant einen Arzt aufgesucht (im Mittel 13x/Jahr), in zwei Drittel der Fälle handelte es sich hierbei um einen Neurologen. Medikamente nahmen 90% der Patienten und insgesamt 124 Patienten gaben die regelmäßige Einnahme von Riluzol an. Die Versorgung mit (stationären) Rehabilitationen war deutlich geringer (23%) und psychologische Unterstützung wurde nur in 5,8% der Fälle erhalten. Dies wurde auch von den meisten Patienten als mangelhaft und verbesserungswürdig beschrieben. Ebenso wurden lange Bearbeitungszeiten und oftmals schwierige individuelle Entscheidungen in der Versorgung mit Hilfsmitteln häufig angegeben.
Interessante Beobachtungen wurden auch hinsichtlich der pflegerischen Versorgung von Patienten gemacht. Während 81% der Patienten und im Mittel 7,6 Stunden/Tag sog. informelle Pflege benötigten (von nicht ausgebildeten Personen geleistet, i.d.R. Angehörigen), erhielten nur 41% (1,4 Std./Tag) professionelle Pflege (z.B. Pflegedienst, Kurzzeitpflege, Haushaltsunterstützung etc.).

Ermittlung der individuellen gesundheitsbezogenen Lebensqualität
Jeder Patient wurde auch nach seiner (gesundheitsbezogenen) Lebensqualität gefragt. Auf einer Skala von 0 bis 100 (bester Wert) lag der Wert im Durchschnitt bei 40. Man konnte deutlich feststellen, dass die Lebensqualität in frühen Erkrankungsphasen und mit weniger krankheitsbedingten Einschränkungen der Selbständigkeit besser war und im Krankheitsverlauf abnahm. Stärkste Einflussfaktoren auf (die Abnahme) der Lebensqualität waren vorliegende Einschränkungen in der Alltagsbewältigung, die Notwendigkeit einer Pflegestufe, Rollstuhlabhängigkeit sowie die Notwendigkeit einer 24-stündigen Betreuung/Unterstützung.

Schlussfolgerungen
Die Daten dieser Studie zeigen mit zunehmender Erkrankungsschwere im Erkrankungsverlauf und dem individuellem Autonomieverlust steigende durchschnittliche Kosten pro Kopf (im Mittel 78.256 Euro pro Jahr) und deutschlandweite Gesamtkosten durch ALS von > 520 Mio. Euro jährlich. Diese Zahlen sind vergleichbar mit denen der Duchenne Muskeldystrophie oder spinalen Muskelatrophie und deutlich höher als z.B. bei Myasthenia gravis oder Fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie (FSHD; 10-12). Zudem sinkt mit zunehmender Erkrankungsschwere die individuelle Lebensqualität, so dass Medikamente, mit Hilfe derer ein Aufhalten der Erkrankung in frühen Stadien gelänge, nicht nur kostensenkende Effekte, sondern auch eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität Betroffener zufolge hätten.
Zudem zeigt diese Studie Versorgungsbereiche auf, die bereits aktuell einer Verbesserung bedürfen. Zu nennen sind hier v.a. die psychologische Unterstützung von Betroffenen und mehr professionelle Pflegeangebote zur Sicherstellung einer qualifizierten pflegerischen Versorgung von Patienten sowie der Entlastung von Angehörigen. Zudem zeigen sich auch in der Hilfsmittelversorgung Verbesserungsmöglichkeiten. Abgesehen von einer schnelleren Bearbeitungszeit von Anträgen sahen wir eine Unterversorgung mit Mobilitätshilfsmitteln (20% der Patienten, die Probleme mit dem Gehen angaben, waren nicht versorgt), aber auch Pflege- und Alltagshilfsmitteln (29% bzw. 76% unterversorgt). Auch von den Patienten, die eine subjektive Dyspnoe (= Atemnot) angaben, waren 59% nicht mit einem atmungsunterstützenden Hilfsmittel versorgt. In manchen Fällen mag hier die (noch) fehlende Indikation eine Rolle spielen oder die bewusste Entscheidung dagegen – dennoch sollten Patienten ärztlicherseits besser und frühzeitiger über bestehende Möglichkeiten der Unterstützung informiert und aufgeklärt werden.